Kapital: Roman (German Edition)
und öffnete in seinem Browser die neue Blog-Seite. Dann ging er die Namen einzeln durch und überprüfte, bei welchen von ihnen plötzlich ein Graffito aufgetaucht war.
In Mills Notizen stand:
»Pepys Road Nummer 51: Roger und Arabella Yount, zwei kleine Kinder: Banker und Hausfrau, 40 und 37.«
Quer über dem Bild war ein Balken mit der Aufschrift »Reaktionäre Pisser«. Das war eine praktische und passende Beleidigung für reiche Leute, die im Finanzsektor arbeiteten, und deutete also tatsächlich darauf hin, dass es jemand geschrieben hatte, der die beiden kannte. Oder es war einfach nur gut geraten.
»Pepys Road Nummer 42: Petunia Howe, 82, Witwe, lebt allein.«
Dieses Bild war mit dem Wort »Wichser« verunstaltet worden. Und das schien ein wenig seltsam. Das war kein Wort, das man für eine altersschwache, alleinstehende Frau benutzte, jedenfalls nicht, wenn man sie persönlich beleidigen wollte. Und wenn man hier niemanden persönlich beleidigen wollte, was sollten dann all diese Beschimpfungen?
»Pepys Road Nummer 68: Ahmed und Rohinka Kamal, 36 und 32, Kioskbesitzer und Ehefrau, zwei kleine Kinder, Geschäft im Erdgeschoss, Wohnbereich im ersten Stock.«
Hier stand das Wort »Schwanzgesicht«. Das war ein sehr schönes Schimpfwort, eins von Mills Lieblingsbeschimpfungen, aber was hatte es mit den Kamals zu tun? Er hatte vor einiger Zeit in ihrem Laden vorbeigeschaut, um sie zu fragen, ob sie ebenfalls diese Karten bekommen hätten. Weil sie über einem Geschäft lebten und nicht in einem piekfeinen Haus, hatte er gedacht, man habe sie vielleicht verschont. Aber auch bei ihnen waren die Karten aufgetaucht, und sie hatten sie aufgehoben und waren unglaublich hilfsbereit und freundlich gewesen, so freundlich, dass er es erst schaffte, das Haus zu verlassen, nachdem sie ihm eine Tasse Tee und zwei kriminell süße und sündhaft kalorienreiche Gulab Jamuns verabreicht hatten. Nein, die Kamals konnte man nun wirklich nicht als Schwanzgesichter bezeichnen.
Pepys Road Nummer 46: Mrs Trimble und ihr Sohn Alan, 58 und 30, geschiedene Hausfrau, Sohn ist Unternehmensberater im IT-Bereich. Ein einziges Wort: »Nieten«. Nicht ganz passend, aber auch nicht völlig daneben.
Ah, da war es ja. Pepys Road Nummer 27. Mickey Lipton-Miller, Agent und Mädchen für alles bei einem Premier-League-Fußballverein. Mill hatte noch nicht mit ihm gesprochen, aber er wusste, dass Mill der Besitzer war. Das Haus wurde von Patrick Kamo, 48, Polizist, und seinem Sohn Freddy, 17, Fußballspieler, bewohnt. Das Graffito über dem Foto ihrer Haustür lautete »Fette Nulpen«.
Mill und der Kriminalbeamte hatten die Befragung zusammen vorgenommen, beide von dem nicht besonders edlen Motiv geleitet, dass sie Freddy Kamo
unbedingt kennenlernen wollten. Er war sehr nett gewesen, fast stumm vor lauter schüchterner Höflichkeit, während sein Vater ganz offensichtlich ein
Polizist der alten Schule war. Er hätte sehr gut in ihre Polizeiwache gepasst. Aber kein Mensch, der im Besitz all seiner Geisteskräfte war, konnte
Patrick oder Freddy Kamo als fett bezeichnen. Etwas hatte sich verändert. Wer auch immer hinter W IR W OLLEN W AS I HR H ABT stand, wusste entweder nicht das Geringste über die Einwohner der Pepys Road, oder es war ihm vollkommen egal.
62
Mary hatte schon Angst vor der Beerdigung gehabt, bevor ihre Mutter überhaupt gestorben war. Die letzten Wochen von Petunias Leben waren die längste Zeitspanne gewesen, die sie seit Marys Kindheit am Stück zusammen verbracht hatten. Diese Tatsache empfand Mary im Augenblick beinahe als unerträglich; es war eine Schuld, deren Last sie niederdrückte: All jene Besuche, die sie in London hätte machen können, die Wochenenden, die ihre Mutter in Essex hätte verbringen können, die Urlaubsreisen, zu denen sie sie hätten einladen können. Es würde eine Zeit kommen, in der Mary wieder in der Lage wäre, die Dinge ein wenig ausgeglichener zu sehen und sich an die zahlreichen Gründe zu erinnern, gute Gründe, weshalb nichts davon stattgefunden hatte; aber im Augenblick hatte sie hauptsächlich nur Schuldgefühle wegen all der Dinge, die sie nicht getan hatte. Diese Schuld wurde jedoch ein wenig durch die Zeit aufgewogen, die sie bei ihrer Mutter am Sterbebett verbracht hatte, die langen, harten, einsamen Tage und noch längeren, einsameren, härteren Nächte. Auf dieser Reise war sie ganz allein gewesen. Deswegen fürchtete sie sich auch vor der Beerdigung. Das würde ein
Weitere Kostenlose Bücher