Kapital: Roman (German Edition)
öffentliches Schauspiel um den Tod ihrer Mutter werden, um einen Tod, der, wie sie im tiefsten Innern empfand, ihr allein gehörte. Es war ihr ureigenster Verlust. Mit all diesen anderen Menschen hatte er eigentlich gar nichts zu tun.
Und hier stand sie nun, im Putney-Krematorium. Petunias Testament war überraschend präzise gewesen: kein kirchliches Begräbnis, nur eine Einäscherung in Putney, und die Urne sollte neben Albert begraben werden. Mary konnte sich daran erinnern, dass ihre Mutter einmal gesagt hatte, Putney sei von allen Krematorien in London das schönste, aber Mary hatte dem damals keine besondere Bedeutung beigemessen. Jetzt wusste sie, dass es keinezufällige Bemerkung gewesen war. Petunia musste schon vorher ein paar Mal hier gewesen sein. Mary selbst hätte eine Kirche vorgezogen. Kirchen waren Orte, wo Menschen neben den schlimmen auch schöne Erlebnisse haben konnten, und wo die Hochzeiten und Taufen über die Jahre hinweg genauso ihre Spuren hinterließen wie die Beerdigungen. In einem Krematorium gab es das alles nicht. Ein Krematorium existierte nur aus einem einzigen Grund. Aber ihre Mutter hatte recht gehabt; dieser Ort hatte etwas Beruhigendes: Es war ein niedriges Gebäude aus rotem Backstein mit einer halbkreisförmigen Auffahrt und einem liebevoll gepflegten Garten dahinter; viel schöner als das in Wimbledon, wo der Leichnam ihres Vaters eingeäschert worden war. Hier konnte man den Schornstein gar nicht sehen. Und die Auffahrt war so angelegt, dass die Leichenzüge ohne Probleme kommen und gehen konnten.
Es war ein heller und klarer Spätnachmittag im Mai, und es war warm. Das gab Mary einen Stich ins Herz. Das Begräbnis ihres Vaters war auch an einem warmen Tag gewesen. Es wäre viel besser gewesen, wenn es geregnet hätte und kalt und düster gewesen wäre, das hätte eher zu ihrer Stimmung gepasst. Stattdessen spürte Mary, wie es ihr heiß wurde und sie zu schwitzen begann, während sie mit den anderen Trauergästen draußen in der Säulenhalle stand und darauf wartete, hineingehen zu können. Ihre Mutter hätte einen Tag wie den heutigen sicherlich gerne draußen im Garten verbracht.
Es war interessant zu sehen, wie sehr sich die jetzige Besucherschar von der Menschenmenge unterschied, die damals zum Begräbnis ihres Vaters gekommen war. Damals war die Hälfte aller Einwohner der Pepys Road erschienen. Aber die meisten dieser Leute hatten in der Zwischenzeit ihre Häuser verkauft und waren weggezogen. Sie hatten sich alle aus den Augen verloren. Deswegen waren heute viel weniger Menschen gekommen, nur so gegen zwanzig, und mehr als die Hälfte davon gehörte in der einen oder anderen Weise zur Familie. Eine weitere Überraschung war gewesen,dass Petunia sich gewünscht hatte, es möge einen Gottesdienst geben, der aus dem Gebetbuch der anglikanischen Kirche gelesen wurde. Zu diesem Zweck hatten sie den Pfarrer der Gemeinde angeheuert, zu der die Pepys Road gehörte. Wie sich herausstellte, handelte es sich bei dem Pfarrer – schon wieder eine Überraschung – um eine junge Frau, die sogar noch jünger war als Mary. Als sie sich trafen, war die Pfarrerin gerade erst von einem Lauf durch den Park zurückgekehrt und trug immer noch ihre Joggingsachen. Mary wusste theoretisch, dass es auch weibliche Geistliche gab, aber sie war noch nie einer begegnet. Die Pfarrerin war sehr nett und intelligent und erklärte sich sofort bereit, den Gottesdienst abzuhalten. Dann gab sie die Zeit, den Ort und Petunias »Lebensdaten«, wie sie es nannte, in ihr Smartphone ein, schaute wieder hoch und lächelte Mary an.
»Ich weiß, das kommt Ihnen jetzt ein wenig seltsam vor, aber so kann ich die Daten später auf meinem Computer sichern; dann ist es weniger wahrscheinlich, dass sie verloren gehen«, sagte sie. »Früher habe ich immer drei Terminkalender pro Jahr verschlissen.« Mary konnte sehen, dass sie es genoss, auf einem moderneren Stand zu sein, als die Leute es von ihr erwarteten. Das Treffen mit der schlanken, praktisch veranlagten, liebenswürdigen Pfarrerin machte Mary irgendwie traurig. Sie bekam dadurch plötzlich das Gefühl, dass sie jetzt selbst an der Reihe war, alt zu werden. Sie würde erleben, wie sich die Welt veränderte, sich von den alten Gepflogenheiten entfernte, davon, wie man früher gewesen war und sich verhalten hatte, so dass man allmählich dort, wo man vormals einmal zu Hause gewesen war, immer mehr zu einem Fremden wurde. Durch die weibliche Priesterin mit
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