Kapital: Roman (German Edition)
er den Bürokram zurück in die Schublade legte, berührten seine Finger noch etwas anderes, ein Blatt Papier, das flach gegen die Rückwand der unteren Schublade gepresst worden war. Da er selbst ein großer Geheimniskrämer war, hatte er einen wachen Instinkt für die Geheimnisse anderer und dafür, wann er auf ein solches gestoßen war. Aber das Blatt Papier war schwer herauszubekommen, es schien an dem Metall am hinteren Ende des Faches festzukleben. Mark streckte sich, verdrehte sich und versuchte verzweifelt, mit den Fingern das Papier zu fassen zu bekommen, um es herauszuziehen, ohne es dabei zu sehr zu zerknüllen, denn das hätte verraten, dass es jemand herausgenommen und angeschaut hatte, als er plötzlich eine Stimme hinter sich hörte, die laut fragte:
»Was zum Teufel machst du da?«
O nein. Jez. Er stand am Eingang des Handelsraums. Seine Haare waren vom Duschen noch ganz nass, und über seiner Schulter hing eine Sporttasche. Das kann doch nicht wahr sein, dachte Mark – es ist erst zwei Minuten nach sechs –, und dann dachte er, oh nein, er muss zur Arbeit gekommen sein, um mit Tokio zu verhandeln, und gleichzeitig dachte er, wie überflüssig dieserGedanke war, weil er hier gerade bis zum Hals in der Scheiße steckte und in einem Affentempo immer tiefer darin versank. Und dann wurde ihm klar, dass er ein riesiges Problem hatte: Er hatte Jez’ Computerbildschirm eingeschaltet. Dafür gab es keine mögliche, keine vorstellbare, absolut keine harmlose Erklärung. Sobald Jez auch nur zwei oder drei Schritte vorwärts machte, würde er mit dem Anblick von Scarlett Johanssons Arschbacken belohnt werden, und Mark wäre seinen Job los. Noch während diese Gedanken durch Marks Kopf schossen, setzte er sich schon in Bewegung. Er zuckte von der Schublade zurück und schob sie zu. Er wusste, dass er aussehen musste wie das personifizierte schlechte Gewissen. Irgendetwas Kompliziertes, Ekelerregendes ging in seinem Magen vor.
»Bürozeugs. Schreibblock … konnte meinen nicht finden. Ich wusste, dass du so was benutzt, dachte, ich nehme mir mal ein Blatt, dachte, du hast schon nichts dagegen.«
Jez starrte ihn an. Er hatte sich noch nicht von der Stelle bewegt und machte einen verärgerten, misstrauischen und feindseligen Eindruck.
»Warst du im Fitnessstudio?«, fragte Mark.
Jez fing an, auf einem Kaugummi herumzukauen. Er musste bereits einen im Mund gehabt und plötzlich mit dem Kauen aufgehört haben, als er in den Raum gekommen war und Mark entdeckt hatte. Aber davon abgesehen bewegte er sich keinen Zentimeter und sagte kein Wort.
»Eine gute Angewohnheit«, sagte Mark. Er schob sich ein kleines bisschen näher an den Rand des Schreibtisches heran. Der Ausschaltknopf des Bildschirms war kaum zwanzig Zentimeter von seiner Hand entfernt. Aber Jez konnte seinen Oberkörper genau sehen, und es war unmöglich, einfach die Hand auszustrecken und das Ding auszuschalten, ohne dass Jez es mitbekam.
»Bist du wegen Tokio hier?« Jez gab ein Grunzen von sich, ein Geräusch, das Ja oder Nein heißen konnte oder auch Verpiss dich oder Das geht dich einen Scheiß an. Und dann machte er einenSchritt nach vorn, so dass Mark keine Wahl mehr hatte. Er verzerrte sein Gesicht und schrie –
»Achtung, hinter dir!« – und während Jez sich umdrehte, schaltete er blitzschnell den Bildschirm aus. Seine in diesem Moment überaus geschärfte Wahrnehmung empfand die Zeit, die der Bildschirm brauchte, um sich zischend und flackernd auf einen kleinen Punkt zu reduzieren und dann schwarz zu werden, als halbe Ewigkeit. Im nächsten Moment drehte Jez sich wieder um. Jetzt war er ganz unverkennbar wirklich wütend geworden.
»Du hast geguckt!«, rief Mark. Jez kam auf ihn zu. »Tut mir leid«, fuhr Mark fort. »Ein Dummer-Jungen-Streich. Ziemlich albern.«
Jez blieb ganz nah vor ihm stehen. Zu nah. Er überschritt die Grenzen von Marks Intimsphäre. Aber das war wohl gerade nicht der beste Zeitpunkt, um sich darüber zu beschweren. Jez war ein sehr massig gebauter Mann, wenn man so dicht vor ihm stand, und größer, als es von Weitem den Anschein hatte. Er roch nach Duschgel.
»Ich sehe keinen Schreibblock«, sagte Jez mit seinem ungehobelten Londoner Akzent.
Mark wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er machte einen Schritt rückwärts und zur Seite, um von Jez wegzukommen, aber Jez folgte ihm sofort und rückte ihm dicht auf den Leib. Dann schob er sein Gesicht ganz nah an das von Mark heran, legte den Kopf zur
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