Kapital: Roman (German Edition)
dessen Kommen sich Mary sehr gefreut hatte, benutzte diese Worte, genau wie der Mann, der unten in der Straße wohnte und immer so freundlich gewesen war und nett gelächelt hatte, dessenNamen sie jedoch nicht kannte. Auch zwei von Alberts früheren Arbeitskollegen, die gekommen waren, sagten: »Herzliches Beileid«. Und sehr zu Marys Erstaunen tat das auch der polnische Handwerker, der ins Haus gekommen war, um für die Renovierungsarbeiten einen Kostenvoranschlag zu machen. Das ist wohl eine polnische Sitte, dachte Mary. Vielleicht gehen die ja gerne auf Beerdigungen. Sie würde sich entscheiden müssen, was sie mit dem Haus machen sollte, und sie war sehr geneigt, den Polen zu engagieren, damit er es renovierte, und es dann zu verkaufen. Wie viel mochte es wert sein, so gegen zwei Millionen Pfund? Das war absurd, aber so lagen die Dinge eben. Sie erwischte sich dabei, wie sie diesen Gedanken nachhing, und schämte sich. Und das, wo ihre Mutter kaum in ihrem Grab erkaltet war, wie man so schön sagte – aber nein, ihre Mutter war ja in Flammen aufgegangen.
Graham, der in seinem Anzug sehr elegant aussah, stand nicht weit weg, als wollte er sie im Auge behalten. Und wie so oft sah er irgendwie wissend und ironisch aus. So als glaubte er, mit Leichtigkeit erraten zu können, was andere Leute gerade dachten. Tja. Was ich gerade denke, ist: Meine Mutter ist tot, und ich bin reich.
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Es dauerte zwei Wochen, bis Mary es endlich schaffte, eine Entscheidung zu treffen, was mit dem Haus in der Pepys Road Nummer 42 geschehen sollte. Nach der Beerdigung erlitt sie einen kleinen Zusammenbruch. Nichts wirklich Schlimmes, sie fühlte sich einfach nur die ganze Zeit sehr müde und war nicht in der Lage, auch nur die kleinsten Dinge zu entscheiden. Wann immer das möglich war, schob sie die Wahl einfach auf Alan ab. Und wenn das nicht ging, dann brodelte sie geradezu vor Unentschlossenheit. Eines der Symptome, die das mit sich brachte, war ihre vollkommene Unfähigkeit zu entscheiden, was sie kochen sollte. Eigentlich hatte sie sich darauf gefreut, wieder mit dem Kochen anzufangen. Während ihre Mutter im Sterben lag, hatte sie sich mit Fertiggerichten über Wasser gehalten. Man hätte also meinen können, sie wäre froh, wieder in ihrer eigenen Küche zu sein und richtiges Essen zu kochen. Und dann gab es da noch die Tatsache zu bedenken, dass Ben – auch wenn er natürlich nichts Diesbezügliches sagte, denn das hätte ja eine Kommunikationsmethode erfordert, die über vage Grunzlaute hinausging – ihre Kochkünste den nicht vorhandenen Kochkünsten seines Vaters bei Weitem vorzog.
Aber vielleicht war das genau der Grund dafür, dass sie nicht die geistige und körperliche Energie aufbrachte, die die Zubereitung einer ordentlichen Mahlzeit erforderte. Manchmal stand sie zehn Minuten vor dem Kühlschrank, weil sie nicht entscheiden konnte, was sie zum Abendessen kochen sollte. Dabei fühlte sie sich nicht etwa deprimiert oder frustriert oder wütend oder nahm es den anderen übel, das sie kochen musste; sie fühlte eigentlich gar nichts, außer der Unfähigkeit, zwischen Nudeln und einem bereits vorgefertigten Shepherd’s Pie zu entscheiden. Sie sah ihre Kochbücherim Regal stehen, mit all den Rezepten von Nigella Lawson, Nigel Slater, Delia Smith und Jamie Oliver. Die ungeöffneten Bücher standen da, mit verschränkten Armen, als wollten sie ihr Vorwürfe machen. In dem Sainsbury’s in Maldon stand sie vor dem Schrank mit der Tiefkühlkost und sah sich außerstande, eine Entscheidung zwischen den Fischstäbchen von Birds Eye für 4,98 £ und denen von Sainsbury für 4,49 £ zu treffen. Die Packungen waren genau gleich groß und wurden höchstwahrscheinlich von denselben Leuten hergestellt. Aber was, wenn sie doch nicht gleich waren? Sie machte es sich zur Angewohnheit, Alan bei der Arbeit anzurufen und ihn zu fragen, was er essen wolle, damit sie selbst keine Wahl zu treffen brauchte. Ähnlich verhielt es sich auch mit dem Fernsehen, oder wenn sie entscheiden musste, welche Radiosendung sie im Hintergrund laufen lassen oder welche Kleider sie anziehen sollte. Alles schien ihr einfach nur riesige Mühe zu machen. Manchmal wurde sie auch plötzlich von einer tiefen Trauer überrollt, in vollkommen unvorhersehbaren Momenten, wenn sie zum Beispiel »Love me do« auf einem Oldies-Sender im Radio hörte, oder wenn sie in der Bank in einer Warteschlange stand und eine Frau sah, die ungefähr im Alter ihrer Mutter war und
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