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Kapital: Roman (German Edition)

Kapital: Roman (German Edition)

Titel: Kapital: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lanchaster
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ihren Joggingsachen und ihrem BlackBerry gewann Mary einen Eindruck davon, wie es für ihre Mutter gewesen sein musste, als sie älter wurde.
    Aber die Pfarrerin las sehr schön. Beim ersten Treffen war ihre Stimme hell und ein wenig verhaucht gewesen, aber das hatte vielleicht daran gelegen, dass sie gerade erst Sport getrieben hatte. Während der Zeremonie klang sie wesentlich wärmer und tiefer.
    Ich bin die Auferstehung und das Leben, so spricht der Herr; wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe; und wer da lebet und glaubet an mich, der wird nimmermehr sterben.
    Ich weiß, dass mein Erlöser lebet; und er wird zuletzt über dem Staube sich erheben. Und nachdem diese meine Hülle zerbrochen ist, alsdann werde ich, von meinem Fleische los, Gott schauen.
    Petunia hatte kein Wort davon geglaubt, das wusste Mary genau, aber die Sprache hatte den richtigen Klang, wenn es darum ging, sich mit den letzten Dingen auseinanderzusetzen. Schließlich handelte es sich ja tatsächlich um das Ende der Welt, jedenfalls für Petunia. Marys Vater, der ein polternder, grimmiger, militanter Atheist gewesen war, wäre bei der Vorstellung, man könnte einen Gottesdienst aus dem Gebetbuch lesen, fuchsteufelswild geworden. Dies war also eine letzte, eine allerletzte und sehr überfällige Revolte ihrer Mutter. Endlich hatte sie einmal getan, was sie selbst wollte, statt in ihrer üblichen leidgeprüften Art alles still zu ertragen. Mary lächelte, schniefte und spürte, wie Alan ihren Arm drückte, Alan, der direkt neben ihr saß, in all seinem Fleische, den ganzen fünfundneunzig Kilo, und in seinem besten Marks & Spencer-Anzug. Das gab ihr Halt. Auf ihrer anderen Seite war Ben heroisch darum bemüht, sich nicht zu Tode zu langweilen und möglichst nicht herumzuzappeln, während Graham und Alice beide bleich, aber gefasst aussahen. Einen Moment lang war sie sehr stolz auf ihre Kinder, und auch auf sich selbst, weil sie sie großgezogen hatte. Das habe ich doch ganz gut hingekriegt, dachte Mary.
    Die Pfarrerin las noch weiter mit ihrer ausdrucksstarken Stimme und sprach dann ein Gebet für Petunia Charlotte Howe. Daraufhin drückte sie auf einen Knopf, der Vorhang teilte sich, und der Sarg mit dem Leichnam rollte durch ein Loch in der Wand zu dem Feuer, das vermutlich dahinter brannte. Mary hatte damit gerechnet, dass das Ganze viel melodramatischer werden würde. Sie hatte geglaubt, man würde womöglich einen Blick auf die lodernden Flammen erhaschen – war das nicht das, was in Filmenimmer passierte? –, doch stattdessen gab es nur diese etwas seltsame Mischung aus Sakralem und Profanem. Aber sie war froh darüber. Es hätte ihr sonst leicht zu viel werden können. Als sie draußen waren, zerstreuten sich die Trauergäste. Manche kamen zu Mary, Alan, Graham, Alice und Ben hinüber, andere unterhielten sich in kleinen Gruppen. Alan, der mal wieder ganz wunderbar gewesen war, hatte für nachher einen Raum in einem Pub gemietet, damit sie sich alle noch auf einen Drink treffen und nach der Zeremonie etwas Dampf ablassen konnten. Jetzt war der passende Augenblick, um den Leuten deswegen Bescheid zu geben. »Du musst ihnen was zu trinken und Sandwiches anbieten«, hatte Alan gesagt. »Das wird erwartet. Gehört zum Ritual. Danach können sie sich dann verpissen und heimgehen.«
    Heim – das Wort hatte in Marys Ohren plötzlich einen ganz anderen Klang. Wo war ihr Heim? Maldon, natürlich. Außer Maldon gab es jetzt nichts mehr in ihrem Leben, kein Schlupfloch, keinen Ort, an den sie fliehen und wo sie sich verstecken konnte, keine Mutter mehr, bei der sie in der Not Zuflucht finden würde. Dieses kleine Zusammentreffen hinterher, wo man herumstand und sich unterhielt, war viel schwerer zu ertragen als der Gottesdienst selbst. Einer der Männer, die für das Krematorium arbeiteten, erschien kurz in der Eingangstür und verschwand dann wieder ins Innere des Gebäudes. Mary gewann den Eindruck, den Angestellten hier sei es etwas lästig, dass die Trauergäste noch länger geblieben waren – vielleicht war ja bereits die nächste Einäscherung anberaumt. Das war sogar höchstwahrscheinlich, wenn man einmal darüber nachdachte. Aber sie konnte sich nicht dazu aufraffen, die Dinge zu beschleunigen und die Leute hier wegzuscheuchen oder sonst irgendetwas Hilfreiches zu tun. Nicht heute.
    »Es tut mir so leid«, war das, was die meisten Leute sagten. Manche sagten auch »Herzliches Beileid«. Der indische Kioskbesitzer, über

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