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Kapital: Roman (German Edition)

Kapital: Roman (German Edition)

Titel: Kapital: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lanchaster
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ignorieren. Dieses Verhalten war mehr als ärgerlich gewesen, es hatte fast schon an eine Borderline-Psychose gegrenzt. Sieben Monate!
    »Ich ziehe bald aus«, sagte er immer, wenn Shahid darauf zu sprechen kam. »Bald bin ich weg.«
    Aber die bevorstehende Ankunft von Mrs Kamal hatte ihn zur Strecke gebracht. Shahid war sehr stolz auf seine geniale Vorgehensweise. Er wusste, dass es Iqbal genauestens bekannt war, wie sehr die ganze Familie vor ihr Angst hatte – obwohl Angst vielleicht das falsche Wort war, vielleicht sollte man eher sagen, dass sie ihnen Furcht und Schrecken einjagte. Wie auch immer, Iqbal wusste jedenfalls, dass sie das wandelnde Grauen war. Darüber musste Shahid gar keine Lügen erzählen. Er musste nur darüber lügen, wo sie wohnen würde, während sie in London war, und auch bei dieser Lüge bleiben. Genau das hatte er getan. Kaum hatte Mrs Kamal verkündet, dass sie zu Besuch kommen würde, war Shahid sofort in seine Wohnung gerast und hatte Iqbal gesagt, dass er ausziehen müsse, und auch, an welchem Datum. Iqbal hatte sogar noch die Stirn gehabt, sich zu beschweren und sich so zu verhalten, als sei das unfair. Dieser Belgier war so bodenlos unverschämt, dass man es kaum für möglich halten sollte. Zähneknirschend sah er schließlich ein, dass ihm nichts Anderes übrigblieb, als zu gehen. Und gestern war es dann geschehen – das erstaunliche Wunder – er war ausgezogen! Weg! Abgeschwirrt! Iqbal war nicht mehr da! Elvis hat das Gebäude verlassen! Der Spuk war vorbei! Mandela ist auf freiem Fuß! Shahid hat sein Leben wieder! Er konnte sich auf sein eigenes Sofa setzen, seine eigenen Lieblingssendungen im Fernsehen schauen, ungestört durch seine eigenen Websites im Internet surfen und den Geruch seiner eigenen Stinkesocken und Fürze einatmen! Das Spiel war zu Ende! Und er hatte den letzten Elfmeter verwandelt!
    »Wir werden sie mit unserer Liebe und Verehrung erdrücken«, fuhr Shahid am Frühstückstisch fort. »Sie wird gar nicht mehr wissen, wo oben und unten ist.«
    »Das würde Mamaji nie passieren«, sagte Usman. Seine kleine Stichelei war ziemlich scheinheilig, denn er war schließlich Mrs Kamals Liebling. Aus welchem Grund das so war, konnten die anderenbeiden Brüder nicht im Geringsten nachvollziehen, wenn man einmal davon absah, dass er der Jüngste war – der übellaunige, mürrische, unausstehliche Jüngste, der auch noch auf dem besten Wege war, fanatisch zu werden. Ahmed warf Usman einen warnenden Blick zu: Er und Rohinka gaben sich die größte Mühe, in Gegenwart der Enkel nicht schlecht von Mrs Kamal zu reden. Niemand durfte über sie herziehen, wenn die Kinder zuhörten – diese Regel musste strikt befolgt werden. Das taten sie zum Teil deshalb, weil sie ein gutes Beispiel geben wollten für die Zeit, wenn sie selbst alt sein würden, zum Teil aber auch, weil sie Angst hatten, Fatima könne alles, was sie sagten, brühwarm weitererzählen.
    »Wir werden sie mit Liebe geradezu bombardieren«, sagte Shahid. »Sie wird sich vorkommen wie bei den Hare Krishnas.«
    »Bobalieren!«, sagte Mohammed.
    »Sind alle fertig?«, fragte Ahmed. Rohinka lief um den Tisch herum und sammelte das Frühstücksgeschirr ein, so schnell und effizient, als sei sie eine Hindu-Göttin mit zehn Armen. Sie stapelte, wischte, wischte und stapelte, verstaute alles in der Spülmaschine, drückte die Klappe mit der Hüfte zu und stellte das Gerät dann an. Fatima trug ein leuchtend grünes Kleid – ein sauberes leuchtend grünes Kleid – und Mohammed seinen allerschicksten roten Strampelanzug. Sein Lieblings-Power-Ranger musste auch mitkommen. Die beiden jüngeren Brüder waren so gekleidet, als gingen sie gleich auf den Bau, aber Ahmed trug ordentlich gebügelte Jeans und eine elegante Lederjacke. Sie verließen das Haus, setzten sich in Ahmeds riesigen VW Sharan und fuhren nach Heathrow. Wie nicht anders zu erwarten, war sowohl der Verkehr als auch das Wetter eine Katastrophe.
    Während sie langsam durch den Londoner Westen krochen, musste Ahmed daran denken, wie sehr sich seine persönliche Welt mittlerweile auf die Arbeit und die Kinder beschränkte. Der Laden, die Kinder – manchmal fühlte es sich so an, als wäre das alles, was es noch gab. Zwar war er in dem großen Wagen von seinerFamilie umgeben, aber er konnte auch die gewaltige, unmittelbare Gegenwart der Stadt dort draußen spüren. Während sie sich durch den Verkehr kämpften, begegnete ihnen überall die erstaunliche Größe

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