Kapital: Roman (German Edition)
im Flugzeug, das Entertainmentangebot an Bord, die Turbulenzen, den schrecklichen Zustand, in dem sich Heathrow befand, über die Unverschämtheit der Beamten von der Einwanderungsbehörde und über den Verkehr. Und egal, was passierte, es würde immer der Fehler der Person sein, mit der sie sich gerade unterhielt. Dabei ging sie jedoch überaus subtil vor. Sie war zum Beispiel eine Meisterin darin, sich bei Rohinka über Ahmed in einer Weise zu beklagen, die unmissverständlich klarstellte – auch wenn das nie ausgesprochen wurde –, dass er nur deshalb einso nichtsnutziger Ehemann war, weil sie eine so nichtsnutzige Ehefrau war.
Rohinka und Ahmed hatten ein Ritual: Immer wenn ein solcher Besuch kurz bevorstand, machten sie Witze darüber, wie furchtbar er werden würde. So versuchten sie zu verhindern, dass Mrs Kamals Angriffe ihre Ehe allzu sehr belastete. Mrs Kamals besonderes, ja geradezu geniales Talent waren ihre – wie Rohinka es nannte – »kleinen Nadelstiche«. Das waren Bemerkungen, deren einziger Zweck es war, das Gegenüber zu verletzen, aber immer nur ein ganz kleines bisschen, so dass man sich albern dabei vorgekommen wäre, eine große Sache daraus zu machen.
In der Nacht vor ihrer Ankunft lag Rohinka neben Ahmed im Bett und sagte mit unterdrückter Stimme, damit Mohammed nicht aus seinem furchtbar leichten Schlaf aufwachte:
»Sie glaubt, ich sei intelligent genug, dass es mir auffällt, aber nicht intelligent genug, um mich darüber zu beschweren. Sie sagt solche Sachen wie ›Ahmed macht einen sehr wohlgenährten Eindruck‹ – ich kann es nicht so gut ausdrücken wie sie, mir fällt grad kein gutes Beispiel ein, aber so was in der Richtung – nein, warte, ich erinnere mich an ein Beispiel von ihrem letzten Besuch. Da hat sie gesagt: ›Fatima sah gestern in diesem Kleid ganz reizend aus‹. Wobei sie natürlich die Betonung auf ›gestern‹ legte, weil Fatima an diesem Tag schon wieder dasselbe Kleid anhatte. Die Waschmaschine war nämlich kaputt. Sie erwartet also, dass ich dann sage: ›Vielen herzlichen Dank, dass du mir mitteilst, dass mein Mann fett ist und meine Tochter schmutzig. Was habe ich doch für ein Glück, dass ich dich als Schwiegermutter hab!‹ Ich darf gerade schlau genug sein, um den Stich zu spüren, den sie mir versetzen will, aber nicht schlau genug, um zu widersprechen. Ich soll ihr noch dabei helfen, mich runterzumachen! Ich darf ihr meinen eigenen Kopf zur Verfügung stellen, damit sie darin die kleinen Pfeile findet, mit denen sie mich durchlöchern kann!«
Ahmed kicherte, wodurch das Bett sanft ins Schaukeln geriet.
»Was meinst du damit: ›wohlgenährt‹?«, fragte er.
»Fettsack«, sagte Rohinka und stupste ihn in den Bauch. »Sie schafft es, zehn kritische oder negative Sachen auf einmal zu sagen. Man kann richtig mitzählen, während man sie nacheinander an den Kopf kriegt. Sie ist eine Verunglimpfungsmaschine.«
»Sie wohnt in Lahore.«
»Nicht für die nächsten zwei Wochen«, sagte Rohinka und wälzte sich auf ihre Seite des Bettes.
Am nächsten Morgen gab es ein Familien-Gipfeltreffen, bevor sich alle gemeinsam auf den Weg zum Flughafen machten. Die drei Brüder, Rohinka und die beiden Kinder saßen am Küchentisch, während ein Freund von Shahid sich um den Laden kümmerte. Man hatte beschlossen, es wäre wohl am besten, wenn die ganze Familie Mrs Kamal abholen würde. Beim letzten Mal war Ahmed allein gefahren, um sie bei ihrer Ankunft um acht Uhr morgens zu begrüßen. Er hatte das damals durchaus vernünftig gefunden. Er war um sechs aufgestanden, um sicherzugehen, dass er auch rechtzeitig dort war, und er war allein gefahren, weil Rohinka ganz und gar von Mohammed in Anspruch genommen wurde, der eben erst auf die Welt gekommen war, und auch, weil sich ja schließlich irgendjemand um den Laden kümmern musste. Als sich Mrs Kamal einen Monat später wieder auf den Rückweg nach Pakistan machte, redete sie immer noch von dem »nicht gerade begeisterten« Empfang. (»Ich schaffe es schon allein zum Flughafen, ich weiß ja, wie furchtbar lästig es für euch alle ist, sich ein ganz klein wenig für mich anzustrengen.«)
»Der Feind ist in die Flucht geschlagen!«, sagte Shahid. Er war gut gelaunt, denn er hatte den Besuch seiner Mutter als Vorwand benutzt, um endlich Iqbal, den Belgier, loszuwerden. Der hatte es geschafft, nicht nur alle Anspielungen und Hinweise, sondern auch offen ausgesprochene Bitten, er möge doch ausziehen, völlig zu
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