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Kapital: Roman (German Edition)

Kapital: Roman (German Edition)

Titel: Kapital: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lanchaster
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O weh, grundgütiger Himmel, er ist also doch ein Spinner, dachte Mill.
    »Wie interessant«, antwortete er.
    Während der Inspektor das sagte, zückte Mickey seine Brieftasche, nahm seine Visitenkarte heraus und reichte sie ihm. Das war nicht ganz leicht, denn er hielt nach wie vor den Schirm über ihre Köpfe. Mill betrachtete die Karte, sah, dass Mickey Rechtsanwalt war und er daher auf der Hut sein musste.
    »Ich weiß, Sie denken, ich wäre ein Spinner«, sagte Mickey. »Aber die Sache ist doch so: Wer auch immer das alles macht, kennt die Straße gut, nicht wahr? Ist die Pepys Road unzählige Male rauf und runter gelaufen. Wohnt fast da, könnte man sagen, oder tut es sogar wirklich. Gehört zum Inventar. Jemand, der ins Bild passt, den man kaum bemerkt. Jemand, der nicht weiter auffällt. Kommt und geht, ohne eine Spur zu hinterlassen. Wie gesagt, passt ins Bild. Verstehen Sie? Wie in einer dieser Detektivgeschichten. Keiner bemerkt den Postboten. Woran erinnert Sie das? Natürlich meine ich nicht tatsächlich den Postboten. Bei dem würde es ja auffallen, wenn er mit einer Riesenkamera durch die Gegend läuft und alles filmt. Also brauchen wir einen anderen Ansatzpunkt. Wer hat eine Kamera? Kommt und geht, fällt keinem auf und hat eine Kamera. Dämmert’s? Nein? Kein Problem. Fügen wir noch ein weiteres Element hinzu. Kommt und geht: erster Punkt. Hat eine Kamera: zweiter Punkt. Drittens: Wer auch immer das tut, ist voller Hass, der hat ordentlich was gegen uns. Stimmt’s? Richtig? Das liegt doch auf der Hand. So was macht kein Otto Normalverbraucher. Das hier ist jemand mit einer Riesenwut im Bauch. Auf die Gesellschaft, auf die Welt, auf die Pepys Road. Wütend. Und wer ist im Allgemeinen wütend? Die Art von Person, auf die alle anderen wütend sind. Das ist einer von diesen Teufelskreisen. Gut. Also. Wer hat 1. einen Grund, sich in der Straße aufzuhalten, 2. einen Grund, mit einer Kamera herumzulaufen, und ist 3. auf alle wütend, weil alle auf ihn wütend sind? Wenn man das einmal alles berücksichtigt, dann wird die Sache vollkommen klar: ein Hilfspolizist oder eine Politesse. Oder auch mehrere.«
    »Also hat das alles eine wütende Politesse gemacht.«
    »Ja, oder auch Plural: mehrere Politessen oder Hilfspolizisten. Jeder hasst sie, also hassen sie jeden. Das liegt doch auf der Hand, wenn man es mal genau durchdenkt.«
    Mill war sehr talentiert darin, sich aus unangenehmen Situationen zu befreien. Er dankte Mickey, verabschiedete sich und nickte ihm noch einmal nachdrücklich zu, während er sich auf den Weg zurück zur Polizeistation machte. Mickey dachte: Das ist aber ein höflicher junger Polizeibeamter. Mill dachte: Dieser Mann ist ein bisschen verrückt, aber es ist nicht die schlechteste Idee, und es fällt auf jeden Fall in die Kategorie – die sehr wichtige Kategorie – der Maßnahmen, die es so aussehen lassen, als würden wir etwas unternehmen. Mill würde also noch eine weitere Akte anlegen, mit noch ein paar Leuten im Postamt sprechen, bei den IT-Leuten nachfragen und sich mit ein oder zwei Politessen unterhalten. Und danach würde er sich wieder auf die Hoffnung beschränken, dass die ganze Sache ganz von allein wieder verschwand.

65
    Rohinka Kamal wusste aus Erfahrung, dass sie mit den Besuchen ihrer Schwiegermutter, Mrs Fatima Kamal, am besten so umging, als handele es sich dabei um eine Naturkatastrophe. Man konnte gegen Erdbeben, Tsunamis, Waldbrände und Überflutungen sinnvolle Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, aber es nützte überhaupt nichts, wenn man sich schon vorher die ganze Zeit Sorgen machte. Genauso wenig nützte es, wenn man sich vor Mrs Kamals Besuchen fürchtete, die alle zwei Jahre stattfanden.
    Seit Rohinkas Heirat mit Ahmed war dies nun das vierte Mal, dass Mrs Kamal nach London kam. Während sie sich früher hauptsächlich darauf konzentriert hatte, wegen der noch nicht vorhandenen Kinder an ihnen herumzunörgeln, sie ständig zu kritisieren und ihr Selbstbewusstsein zu untergraben, hatte sie sich jetzt darauf verlegt, wegen der Art, wie sie ihre nun vorhandenen Kinder erzogen, an ihnen herumzunörgeln, sie zu kritisieren und zu demoralisieren. Es hatte sich also nichts verändert. Mrs Kamal würde bereits auf der Heimfahrt vom Flughafen damit anfangen, sich zu beklagen und allen auf die Nerven zu gehen – nein, sie würde das wahrscheinlich schon im Flughafen selbst tun. Sie würde ihnen detaillierte, leidenschaftliche Beschwerden vortragen: über das Essen

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