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Kapital: Roman (German Edition)

Kapital: Roman (German Edition)

Titel: Kapital: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lanchaster
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kein Auge zugetan hatte und deshalb in einer noch unerträglicheren Laune war als sonst, oder es war Fatima, ihrerseits im Begriff zu verkünden, dass sie jetzt wach sei und unterhalten werden wolle. Die Schritte hielten einen Moment inne, als würde die Person nachdenken, und gingen dann in Richtung Treppe weiter: Eine kleine Person kam die Stufen heruntergepoltert. Fatima. Sie bog am Treppenabsatz um die Ecke und kam in den Laden.
    »Mami, mir ist ganz schrecklich kalt.«
    »Es ist grad mal viertel nach fünf in der Früh. Du solltest noch im Bett sein.«
    Fatima stemmte die Hände in die Hüften.
    »Ich konnte nicht schlafen.«
    »Ich bin mir sicher, dass du das könntest, wenn du’s nur versuchen würdest. Denk nur, wie warm und gemütlich es im Bett ist. Unter der Decke. Mit deinen ganzen Spielsachen.«
    »Ich hasse meine Spielsachen!«
    Das war eine so unverfrorene Lüge, dass Rohinka ihre Tochter nur sprachlos anstarrte. Fatima lauschte einen Moment lang ihren eigenen Worten nach.
    »Nicht alle«, gab sie dann zu. »Pinky hasse ich nicht.« Das war eine Puppe, die sie zu ihrem letzten Geburtstag geschenkt bekommen hatte. »Ich könnte zu Papi ins Bett kriechen, da ist es bestimmt ganz doll warm.«
    Rohinka focht einen kurzen, aber heftigen Kampf mit ihremGewissen aus. Das sagte ihr, sie solle ihre Tochter zurück in ihr eigenes Bett verfrachten, koste es, was es wolle. Demgegenüber stand jedoch der Wunsch nach einem friedlichen Tagesverlauf, was wiederum dafür sprach, es Fatima zu erlauben, zu Ahmed ins Bett zu gehen. Vielleicht würden sie ja beide noch eine Weile schlafen. Vielleicht. Aber eigentlich wusste sie nur zu genau, dass Fatima ihn mit größter Wahrscheinlichkeit aufwecken und ein oder zwei Stunden mit ihm plaudern würde. Sie starrte auf den Berg von Arbeit, der noch vor ihr lag.
    »Du könntest ja mal schauen, ob Papi dich zu sich ins Bett lässt«, sagte Rohinka. Ich werde es schon irgendwie wieder bei ihm gutmachen, dachte sie. Fatima verlagerte ihr Gewicht von einem Bein auf das andere, während sie über diesen Vorschlag nachdachte.
    »Nee, hab keine Lust dazu«, sagte sie dann. Rohinka seufzte. Sie hasste es, wenn sie bereits erschöpft war, bevor der Tag überhaupt richtig angefangen hatte. Trotzdem zeigte sie auf Fatimas Lieblingsstuhl. »Nur zehn Minuten. Dann gehst du wieder zurück ins Bett«, sagte sie. »Oder du wirst zu müde sein, um in die Schule zu gehen.« Und als ihre Tochter daraufhin vor Freude in die Höhe hüpfte und in die Hände klatschte, weil sie dableiben durfte, fühlte sie sich plötzlich schuldig.
    Rohinka war schon immer fest entschlossen gewesen, zu heiraten, einen Mann und eine Familie zu haben und auch ein gemeinsames Familienleben. Und als mittleres von fünf Kindern hatte sie geglaubt, auch eine ziemlich gute Vorstellung davon zu haben, was so ein Familienleben bedeutete. Aber sie war nicht darauf gefasst gewesen, welch unendliche Menge an Emotionen auf sie hereinstürzen und sie wie eine elektrische Ladung durchströmen würde. Es gab die wildesten Stimmungsschwankungen: cholerische Anfälle einerseits, Hochgefühle andererseits, hemmungslose Lachanfälle oder das Gefühl, jegliche Mühe sei vollkommen vergebens; es gab die zähneknirschende Erkenntnis, dass jede Stunde eines jeden Tages anstrengend war, und das Bewusstsein, dass sie wegen ihrer Kinder in der Falle saß. Aber dann gab es auch Momentereinster Liebe – das am wenigsten erdgebundene Gefühl, das sie in ihrem Leben je gehabt hatte. Und all das durchlebte sie an einem ganz normalen Tag schon vor neun Uhr morgens. Es war weniger die Intensität dieser Gefühle als vielmehr ihre schiere Menge, auf die sie nicht vorbereitet gewesen war. Rohinka hatte ein kleines böses Geheimnis: Manchmal, wenn sie mit Fatima und Mohammed einkaufen ging, schaute sie die Leute an, die keine Kinder hatten, und dachte: Ihr habt nicht die geringste Ahnung, worum es im Leben geht. Ihr habt keinen blassen Schimmer. Das Leben mit Kindern ist das Leben in Farbe, und das Leben ohne Kinder ist nur in Schwarz-Weiß. Sogar in den Momenten, wenn es furchtbar anstrengend ist – wenn Mohammed im Supermarkt im Einkaufswagen sitzt und die Joghurtbecher aufreißt und Fatima mich anbrüllt, weil ich es ihr an der Kasse nicht erlaubt habe, ein paar Süßigkeiten mitzunehmen, während ich selbst so müde bin, dass meine Augen brennen, und ich meine Tage habe und mir der Rücken davon schmerzt, die Kinder durch die Gegend zu tragen

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