Kapital: Roman (German Edition)
gemäßigten und vernünftigen Argumente, die er vorbrachte, sofort flammende Kriegserklärungen zur Folge hatten, in denen er angeklagt wurde, ein Strohmann, Heuchler und kein echter Muslim zu sein, bis hin zu Beschuldigungen, er sei selbst ein Spion, Provokateur oder V-Mann. Das war einfach zu viel. Usman hörte auf, selbst etwas ins Netz zu stellen. Jetzt hielt er sich nur noch im Hintergrund versteckt.
Heute gab es nicht besonders viel zu lesen. Irak, Afghanistan, die globale Verschwörung – das Übliche. Eine lange Hasstirade zu dem Thema, Al Jazeera sei lediglich das Werkzeug westlicher Unterdrückung und die Katarer, die den Sender finanzierten,seien keine echten Muslime. Die Verbindung über das Telefon ging heute nur sehr langsam, und Usman stellte fest, dass er keine große Lust auf diese Diskussion hatte. Er loggte sich aus der Seite aus, die er gerade gelesen hatte, und ging zu seiner Google-Homepage. Einem Impuls folgend, wegen der guten alten Zeiten, gab er » W IR W OLLEN W AS I HR H ABT « ein und klickte auf den »Auf gut Glück!«-Button. Zu seinem größten Erstaunen war der Blog tatsächlich da, auf einer neuen Plattform, mit dem ganzen Inhalt von vorher und auch zahlreichen neuen Elementen. Usman war genauso überrascht, als wäre ihm gerade jemand aus dem Computer heraus ins Gesicht gesprungen und hätte »Buh!« geschrien. Er klickte auf die Links und schaute sich die verschiedenen Seiten an. Noch mehr Fotos, von denen ein paar jetzt mit virtuellen Graffiti überschrieben waren. Das meiste davon war ziemlich übles Zeug. Bei fast allen Häusern der Straße standen irgendwelche Beleidigungen. Sogar – was für ein Sakrileg! – bei dem Haus, in dem Freddy Kamo wohnte. Ein Foto von ihrem Geschäft in der Nummer 68, ein altes Foto, das sich auch vorher schon auf dem Blog befunden hatte, war mit dem Wort »Schwanzgesicht« verunstaltet worden.
Darüber musste Usman lächeln. Sein Bruder konnte tatsächlich manchmal ein richtiges Schwanzgesicht sein. Aber was mit dem Blog passiert war, war höchst seltsam und beunruhigend. Und Usman verstand es nicht im Geringsten.
69
Es wäre nicht ganz fair, Mrs Kamal für all das verantwortlich zu machen, was mit der Kamal’schen Familiendynamik nicht stimmte. Das war Rohinka klar. Aber es wäre zumindest ein kleines bisschen fair. Darüber dachte sie nach, während sie um fünf Uhr morgens die Lieferungen von draußen in den Laden holte. Sie hatte bereits damit gerechnet, dass sie sich fürchterlich ärgern würde, sie hatte sich psychisch darauf vorbereitet, hatte geübt, immer tief einzuatmen und über den Dingen zu stehen – und doch stand sie nun hier, packte Milchkartons aus, schnitt die Zeitungen mit einem Teppichmesser aus ihren Verpackungen, wartete auf den Lieferwagen mit den Lebensmitteln und ärgerte sich fürchterlich.
Das war genau das, was an Mrs Kamal am schwersten zu ertragen war. Sie verschwendete ein so enormes Maß an geistiger Energie darauf, sich zu ärgern, dass es unmöglich war, sich nicht im Gegenzug selbst zu ärgern. Mrs Kamal brauchte diese ständige unterschwellige Unzufriedenheit, die jederzeit in Ärger umschlagen konnte, wie die Luft zum Atmen. Sie brauchte dieses Gefühl, dass um sie herum alles verkehrtlief. Das reichte von dem Verkehrslärm in der Nacht über die Wassertemperatur im Bad am Morgen bis hin zu den nicht vorhandenen Fortschritten, die Mohammed dabei machte, sich ans Töpfchen zu gewöhnen. Sie beschwerte sich darüber, dass Fatima nicht auch Urdu lesen lernte, sondern nur Englisch, darüber, dass Rohinka am Abend ihrer Ankunft nur zwei verschiedene Gerichte serviert hatte, darüber, wie teuer die Versicherung für den VW Sharan war, darüber, dass Shahid keinen ordentlichen Job hatte und auch nicht die Absicht zu haben schien, sich einen zu suchen, von einer Ehefrau mal ganz zu schweigen, darüber, wie unfreundlich in London alle waren, wasfür eine »unmögliche Stadt« dies sei; sie klagte ostentativ darüber, wie sehr sie Lahore vermisse, insbesondere zur Abendessenszeit, und reagierte auf das Essen, das Rohinka kochte, mit bedeutungsschwangeren, vorwurfsvollen Blicken. Ich sollte diese miese Zimtzicke einfach vergiften, das geschähe ihr recht. In Gedanken knurrte und brodelte Rohinka geradezu vor Ärger. Und sie wusste selbst nur zu gut, welche Ironie darin lag.
Sie hörte Geräusche von oben. Das war auf keinen Fall etwas Gutes: Entweder war es Mrs Kamal, im Begriff, sich zu beschweren, dass sie
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