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Kapital: Roman (German Edition)

Kapital: Roman (German Edition)

Titel: Kapital: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lanchaster
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dass er jede seiner Bewegungen mitbekam. Das war gar nicht gut, denn Iqbal bewegte sich nachts außerordentlich viel – er kochte sich Kaffee, drehte in der Küche und im Bad die Wasserhähne auf und stellte den Fernseher an, wobei der Ton gerade laut genug war, dass man ihn hörte, aber nicht laut genug, um zu wissen, was er sich ansah (wenn Shahid mal nachschaute, stellte sich meistens heraus, dass es sich dabei um irgendwelche schäbigen Actionfilme handelte: Filme mit Chuck Norris, Jean-Claude Van Damme oder Steven Seagal). Manchmal saß er auch am Computer. Dann schien ein schwaches Licht unter dem Türspalt hervor, und es herrschte eine Stille, die keine wirkliche Stille war, und all das um drei oder vier Uhr morgens – Iqbal surfte durchs Internet. Und was das Gebet im Morgengrauen anbetraf, das konnte man gleich vergessen. Das Problem war nicht etwa, dass Iqbal jeden Morgen aufstand, um zu beten: Falls es sich um etwas so Regelmäßiges gehandelt hätte, dann hätte Shahid es ja noch irgendwie ignorieren können. Das Problem war vielmehr, dass er nur dann aufstand, wenn ihm gerade danach war. In manchen Wochen geschah das jeden Tag, in anderen überhaupt nicht, und manchmal abwechselnd einen Tag ja, einen Tag nein, den nächsten wieder ja, oder umgekehrt. Und man konnte sich darüber nicht einmal beschweren,wenn man selbst nicht fromm genug war, um sich rechtzeitig zum Morgengebet aus dem Bett zu quälen. Entschuldige, Bruder, aber würdest du bitte deine Fadschr-Gebets-Gewohnheiten vereinheitlichen, denn es MACHT MICH WAHNSINNIG.
    Aber all das lag jetzt in der Vergangenheit. Während der ersten vier Tage nach Iqbals Auszug – der erst einen Tag vor Mrs Kamals Ankunft stattgefunden hatte, so lange hatte er es geschafft, die Sache zu verzögern und sich festzukrallen – schlief Shahid den wundervollen und ungestörten Schlaf des Gerechten. Wenn er dann aufwachte, stellte er sich zunächst immer auf den ersten ärgerlichen Moment des Tages ein, wenn er ins Bad gehen und auf dem Weg dorthin an seinem ungebetenen Gast, dem belgischen Jihadisten, vorbeimusste, der sich in seinen immer grauer werdenden Unterhosen auf dem Sofa ausgebreitet hatte – und dann, welch Glück!, merkte er, dass Iqbal gar nicht mehr da war! Es war niemand da! Es war seine Wohnung, seine ganz eigene Wohnung, mit herabblätternder Wandfarbe, knarzenden Fenstern und einer nur halb funktionierenden Stereoanlage, und er hatte sie ganz für sich allein! Er konnte splitternackt aufs Klo gehen! Er konnte im Wohnzimmer einen Handstand machen! Niemand konnte ihn mehr daran hindern! Es war ein ähnlich großes Glücksgefühl wie das, was man hat, wenn man aus einem schrecklichen Albtraum erwacht und feststellt, dass nichts davon real war. Und Shahid hatte dieses Gefühl vier Tage hintereinander. Während dieser Zeit genoss er den herrlichsten Schlaf und hatte die glücklichsten Aufwachmomente seines Erwachsenenlebens.
    Aber der fünfte Morgen war anders. Shahid war gegen Mitternacht ins Bett gegangen, hatte noch eine Viertelstunde in einem Roman von Stephen King gelesen, um müde genug zu werden, hatte dann das Licht ausgemacht und geschlafen wie ein Stein. Aber gegen halb fünf hatte er plötzlich einen Traum. Und im Vergleich mit anderen Träumen war dieser besonders seltsam und brutal, wie ein Thriller, in dem etwas ganz übel schiefging. Er träumte etwas von bewaffneten Männern, die in seine Wohnungeinbrachen, und von lautem Geschrei; und plötzlich war es gar kein Traum mehr, sondern real. Da waren tatsächlich laut rufende Polizisten in seiner Wohnung, die ihm aus nächster Nähe zwei Pistolen ins Gesicht hielten. »Polizei, Spezialeinheit!« war das, was sie brüllten – es war etwas schwer zu verstehen, weil es mehrere von ihnen gleichzeitig riefen und sie sich deshalb gegenseitig übertönten. Aus einer anderen Ecke der Wohnung hörte er ein krachendes Geräusch. Irgendjemand hat hier so richtig Scheiße gebaut, dachte Shahid, während einer der Polizisten sich vorbeugte und ihm die Bettdecke wegzog. Sein Bewusstsein spaltete sich in mehrere verschiedene Teile auf. Ein Teil seines Gehirns schrie: Bitte erschießt mich nicht, während ein anderer Teil dachte: Bin ich froh, dass ich gestern noch eine saubere Unterhose angezogen habe; ein Teil dachte: Ich frage mich, wer für diesen Scheiß verantwortlich ist, ein anderer: Irgendwann wird das ’ne tolle Geschichte zum Erzählen hergeben, und wieder ein anderer dachte: Man könnte sie

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