Kapital: Roman (German Edition)
sein, woran er denken konnte), aber er verlor dabei auch jeden Bezugzur Realität. Er weigerte sich zum Beispiel, so wie alle anderen Menschen eine Bank zu benutzen oder seine Rente zu beziehen. Rechnungen bezahlte er grundsätzlich nicht sofort – er wartete die erste Mahnung ab, dann die zweite und zahlte erst, wenn rechtliche Schritte angedroht wurden. Das Ganze war fürchterlich anstrengend. Es war verrückt. Aber selbst ein so vom Geiz besessener Mensch wie Albert musste Gas- und Stromrechnungen bezahlen. Ein- oder zweimal hatte er von der Möglichkeit gesprochen, einen Münzautomaten für ihre Energieversorgung anzuschaffen. Das war eine der wenigen Gelegenheiten gewesen, bei denen Petunia ein Machtwort gesprochen und ganz klar nein gesagt hatte. Daraufhin hatten sie zwei Wochen lang nicht miteinander geredet, weil er so beleidigt gewesen war. Nachdem die zwei Wochen um waren, war er eines Morgens ganz seelenruhig aufgestanden und hatte so getan, als sei nichts gewesen. Die Folge seines Verhaltens war, dass er ihr jetzt am meisten fehlte, wenn sie etwas erledigen musste, was sonst immer er gemacht hatte: die Wasserrechnung zu begleichen und die Abschlagszahlungen zu überweisen, zu prüfen, ob auch ihre Rente bezahlt worden war, und sich Sorgen zu machen, ob womöglich Klempnerarbeiten nötig waren. All das war schon an sich eine Last und eine Plage. Aber es führte auch dazu, dass sie ihren Mann noch mehr vermisste, als sie es ohnehin schon tat.
Es war seltsam, dass die meisten ihrer Geschichten über Albert ihn in ein ziemlich schlechtes Licht rückten – da war die Sache mit dem Geld, die Auseinandersetzungen, die er mit anderen Leuten hatte, oder die Tatsache, dass er einfach ganz unmöglich sein konnte. Er konnte sich aus Prinzip in etwas verbeißen, irgendetwas, egal was. Seine guten Seiten – seine Herzlichkeit und Güte und sein ganz überraschendes Einfühlungsvermögen, seine Art, etwas Gutes für andere Leute zu tun und ihr nichts davon zu erzählen (jemandem Geld zu leihen, oder jemanden nach Hause zu fahren, oder Beileidsbriefe zu schreiben, wenn jemand gestorben war), die Tatsache, dass er im Grunde genommen ein sehr liebevollerMensch war – aus all dem ließen sich längst nicht so unterhaltsame Geschichten machen. Die meisten guten Seiten an Albert waren eben nur für sie allein zu erkennen gewesen.
In diesem Moment kam Petunia an der sündhaft teuren Metzgerei in der Hauptstraße vorbei. Vor der Tür hatte sich eine Schlange gebildet, was öfter vorkam. Das waren alles diese neuen Leute, die hier in der Gegend wohnten und die so reich waren, dass Geld für sie überhaupt keine Rolle mehr spielte. Im Schaufenster lag ein Truthahn, der mit einer goldenen Schleife und einer Krone geschmückt worden war. Neben ihm stand ein Schild mit der Aufschrift »Bestellen Sie mich noch heute!«
Während sie an den hellen Lichtern und dem ganzen Festtagskitsch vorbeiging, musste Petunia daran denken, wie sehr Albert die Weihnachtszeit geliebt hatte. Man hätte eigentlich meinen können, dass er ein Weihnachtsmuffel war, aber er liebte alles, was mit dem Fest zu tun hatte, jedes einzelne Ritual. Er liebte den Adventskalender, die Weihnachtslieder, die Papierhütchen und sogar die Rede der Queen (auch wenn er gerne Witze darüber riss: »Das Erstaunliche an dieser Familie ist, dass all ihre Mitglieder jedes Jahr noch ein bisschen dümmer werden«). Er freute sich wahnsinnig, dass an Weihnachten Mary und die Kinder zu Besuch kamen. Und das, obwohl Mary sich dann immer wie eine pampige Fünfzehnjährige aufführte: Sie war schweigsam, missgelaunt und fand alles ganz furchtbar. Petunia machte Mary keine Vorwürfe, weil sie nach Essex gezogen war. Sie hatte einfach weggehen müssen. Jetzt, da ihr Vater tot war und ihre Mutter alleine in einem großen Haus wohnte, wäre es vielleicht besser, wenn sie nicht ganz so weit weg wohnen würde, aber das musste sie selbst entscheiden. Petunia hätte es zwar lieber anders gehabt, aber sie konnte ihre Tochter verstehen.
Albert war ein schwieriger Mensch gewesen, das ließ sich nicht abstreiten. Sie hatte viel zu viel Zeit und Energie darauf verwandt, mit ihrem Mann zurechtzukommen, viel mehr, als man es einem einzelnen Menschen zumuten konnte. Als er starb, hätte sie eigentlicheinen Teil dieser Energie für etwas anderes verwenden sollen. Ihr Leben hätte sich ein bisschen öffnen müssen, und sei es auch nur, dass sie nun das Gefühl gehabt hätte, ein wenig freier
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