Kapital: Roman (German Edition)
zu sein. Aber das war nicht geschehen. Und Petunia musste zugeben, dass sie ganz allein die Schuld daran trug. Sie hatte Albert für eine gewisse Beschränkung in ihrem Leben verantwortlich gemacht, aber jetzt, wo er nicht mehr da war, war alles noch genauso eng. Das Problem war vielleicht, dass sie keine klare Vorstellung davon hatte, wie ein weniger enges Leben aussehen könnte: reisen, oder öfter ausgehen, oder, oder … oder was denn eigentlich? Petunia hatte es immer farbenfroh gemocht, aber sie hatte nicht das Gefühl, dass es in ihrem Leben besonders viel Farbe gab. Oder besser gesagt, es gab viel zu viel von einer einzigen Farbe, nämlich Grau. Seit Alberts Tod hatte sie manchmal das Gefühl, dass sie, wenn sie auf ihr Leben zurückblickte, nur noch Grau sah. Moralisch gesehen konnte man als Mensch ja gar nicht gut genug sein, aber wenn man es von einem alltäglichen Standpunkt aus betrachtete – wie man im Leben weiterkam, wie man seinen eigenen Anteil an all den guten Dingen einforderte, die es zu bieten hatte –, konnte man schon auf eine Weise gut sein, die einen nicht gerade weiterbrachte. Petunia hatte einiges von dieser zu stillen, zu anspruchslosen Nettigkeit. Wenn sie die Wahl hatte zwischen ihrem eigenen Wohl und dem eines anderen, würde sie immer die Bedürfnisse des anderen über ihre eigenen stellen. Und das war einer der Gründe, warum sie jetzt manchmal das Gefühl hatte, dass sich alles in ihrem Leben innerhalb einer ganz engen, monotonen Farbskala abgespielt hatte.
Mittlerweile hatte sie ihr Ziel erreicht, ihr Haus in der Pepys Road, wo sie geboren war und wo sie – wenn es nach ihr ging – auch sterben würde. Sie war diese Strecke in ihrem Leben bestimmt zehntausend Mal gelaufen. Sie hatte sie in tausend verschiedenen Gemütsverfassungen zurückgelegt. Einer der glücklichsten Momente ihres Lebens war hier auf diesem Weg gewesen, als sie vom Arzt zurück nach Hause lief, nachdem sie erfahrenhatte, dass sie schwanger war. Sie war traurig durch diese Tür gegangen oder vollkommen erschöpft; manchmal hatte sie sich beim Hindurchgehen matt gefühlt, oder auch fett, oder attraktiv, albern, wütend, geistesabwesend, angeschwipst, oder in höllischer Eile, weil sie dringend aufs Klo musste – sie hatte diese Tür in jeder körperlichen und geistigen Verfassung durchquert, die man sich nur denken konnte. Eine Zeit lang hatte sie Angst gehabt, dass sich Diebe auf sie stürzen würden, während sie mit dem Öffnen der Tür beschäftigt war, und ihr die Handtasche klauen oder sich mit Gewalt Zutritt ins Haus verschaffen würden; aber diese Angst, und andere, ähnliche Ängste waren schon lange Vergangenheit. Es war immer noch dieselbe Tür, und dieselbe Petunia, die hindurchging.
Wir wollen was Ihr habt. Petunia dachte eine Weile über diese seltsame Postkarte nach. Sie hätte nie gedacht, dass ihr einmal jemand diese Worte ins Gesicht sagen würde.
11
Bogdan, der Handwerker, dessen Name eigentlich gar nicht Bogdan war, saß am Küchentisch im Haus der Familie Yount. Er trank sehr starken Tee aus einer großen Tasse. Er hatte sich mittlerweile an Tee gewöhnt und konnte vollkommen verstehen, warum die Engländer ihn so furchtbar ernst nahmen. Vor ihm lagen ein Stift und ein Blatt Papier mit einer Reihe von Zahlen darauf. Daneben stand ein Teller mit einem Keks, den er aus Höflichkeit angenommen hatte, aber keineswegs vorhatte zu essen. Ihm gegenüber saß Arabella Yount, die wässrigen Lapsang Souchong aus einer kleinen Tasse trank und andauernd ihre Haare hinter die Ohren zurückstrich. Sie war geschminkt, hatte winzige Diamantstecker in den Ohren und trug ein Outfit, das sie immer nur dann anzog, wenn sie zu Hause war: einen rosa Trainingsanzug aus Velours.
»Seien Sie ehrlich und ersparen Sie mir nichts, Bogdan. Ist es ganz furchtbar? Wie schlimm ist es? Ich kann die Spannung nicht ertragen. Ist es eine Katastrophe? Sagen Sie schon, es ist eine Katastrophe, nicht wahr?«, sagte Arabella freudestrahlend.
Bogdan, der eigentlich Zbigniew Tomaschewski hieß, setzte seinen Stift neben den ersten Posten auf seiner Liste und sagte:
»Es ist nicht so schlimm.«
Arabella seufzte erleichtert.
»Aber es wird nicht billig.«
Arabella nahm einen Schluck Tee aus ihrer Tasse und zuckte mit den Schultern. Zbigniew sagte:
»Ich finde ein paar Sachen billig, mache es gründlich, aber nicht zu gründlich, achttausend. Ich kaufe alles neu, höchste Qualität, fünf Jahre Garantie – Sie kennen
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