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Kapital: Roman (German Edition)

Kapital: Roman (German Edition)

Titel: Kapital: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lanchaster
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eigentlich gar nicht »ihr« Arzt war – so etwas wie einen festen Hausarzt hatte sie hier nicht. In den letzten zwanzig Jahren war sie zwar bei fast allen Ärzten der Praxis gewesen, aber niemals zweimal hintereinander bei demselben. Das Ganze hatte etwas Herabsetzendes und Unpersönliches, und auf jeden Fall sorgte es dafür, dass der jeweilige Arzt noch länger als ohnehin schon auf den Computerbildschirm starren musste, um ihre Krankenakte zu lesen, statt sie selber anzuschauen und dem zuzuhören, was sie zu sagen hatte. Petunia mochte das Gefühl nicht, so fehl am Platz zu sein. Sie fühlte sich geradezu exotisch unter all diesen Leuten, die Kleider aus Elastan oder bauchfreie Tops oder T-Shirts anhatten, oder eine SMSschrieben, oder im Takt lauter Musik nickten, oder Kopftücher trugen (zwei Frauen), oder sogar einen den ganzen Körper verhüllenden Hidschab (eine), oder in irgendeiner osteuropäischen Sprache etwas in ihre Handys oder zu ihren Nachbarn sagten. »Wir müssen alle zusammenhalten.« Petunia gehörte noch der Generation an, für die das einmal ein sehr wichtiger Grundsatz gewesen war, ein Grundsatz, der genau definierte, was es hieß, ein Brite zu sein. Traf das noch immer zu? Hielten sie noch alle zusammen? Konnte sie sich in dieser Praxis umschauen und das allen Ernstes behaupten?
    Endlich, endlich stand »Mrs Petuna How« auf dem Monitor. Das kam der Wahrheit nahe genug. Petunia stand vorsichtig auf – eine Bewegung, bei der sie nun mehr und mehr aufpasste – und ging nach hinten. Sie konnte spüren, wie die Leute sie ansahen. Dieses Gefühl hatte sie noch nie gemocht. Ein Mann zog seine Beine aus dem Weg, um sie durchzulassen, aber die Tatsache, dass er das tat, ohne von der Zeitung aufzublicken oder ihre Anwesenheit in irgendeiner anderen Form zur Kenntnis zu nehmen, machte sein Verhalten sogar noch unhöflicher, als wenn er sie vollkommen ignoriert hätte. Albert hätte sicher das ein oder andere Wörtchen mit ihm zu reden gehabt.
    Die Tür zum Behandlungszimmer stand offen. Als Petunia klopfte, um den Arzt wissen zu lassen, dass sie da war, rief er: »Hallo! Kommen Sie rein!«, während er noch etwas auf seinem Bildschirm las. Sie trat ein und setzte sich. Er wandte sich ihr zu, lächelte, und sie wusste schon im Voraus, was er sagen würde:
    »Petunia, was kann ich heute für Sie tun?«
    Diesmal war es Dr. Canseca. Petunia war schon ein paarmal bei ihm gewesen. Sein Name klang südländisch, aber er sah überhaupt nicht danach aus. Seine Haare waren blond und zu einem Seitenscheitel gekämmt, und er trug immer eine Krawatte und einen Kaschmirpullover mit V-Ausschnitt in irgendeiner blassen Farbe. Und das, obwohl die Praxis immer sehr gut geheizt war, manchmal sogar zu gut. Hätte sie sein Alter schätzen müssen,dann hätte sie auf siebzehn getippt. Aber das konnte natürlich nicht sein. Wahrscheinlich war er eher so um die dreißig.
    Sie fing an, ihre Symptome zu beschreiben, den Schwindel und die Schwächeanfälle und dieses allgemeine Gefühl, nicht ganz auf dem Posten zu sein. Nachdem sie ungefähr fünfzehn Sekunden geredet hatte, während Dr. Canseca nickte und aufmunternde Geräusche von sich gab, drehte er sich zu seiner Tastatur und begann, immer noch nickend, etwas in seinen Computer zu tippen. Petunia hatte in ihrer Jugend als Sekretärin gearbeitet und fand es interessant, wie sich die Dinge verändert hatten. Heutzutage war die Person, die tippte, die wichtigere von beiden.
    Petunia wurde mit der Aufzählung dessen, was mit ihr nicht stimmte, fertig und hörte auf zu reden. Der Arzt tippte einen kurzen Moment weiter, ohne etwas zu sagen.
    »Haben Sie vielleicht auf einer Seite das Gefühl von Kraflosigkeit? Oder irgendwelche komischen Kribbelgefühle?«
    Petunia schüttelte den Kopf. Dr. Canseca stellte noch eine Reihe weiterer Fragen. Dann sagte er, dass er gerne ihren Blutdruck messen und ihre Brust abhören würde. Sie hatte genau das befürchtet und sich deshalb darauf vorbereitet. Unter dem Mantel, der Jacke und der Strickweste trug sie eine Bluse, die leicht aufzuknöpfen war. Sie zog ihre verschiedenen Kleiderschichten aus und war plötzlich sehr froh, dass der Raum so überheizt war. Was für ein komischer Gedanke, dass ihre Brüste einmal ihr größtes Kapital gewesen waren.
    Sie rechnete damit, dass sie jeden Moment eine Gänsehaut kriegen würde, oder komische Flecken auf der Haut, aber das passierte nicht. Ich hätte fragen sollen, ob ich nicht von einer Ärztin

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