Kapital: Roman (German Edition)
davon ganz eingeschüchtert. Das Einzige, was sie wusste, war, dass sie die Aufzüge finden und zum achtzehnten Stockwerk hochfahren musste.
Vor dem ersten Aufzug wartete eine riesige Menschenmenge. Petunia hatte nicht die geringste Chance, mit nach oben zu fahren. Beim zweiten Aufzug stand sie näher am Anfang der Schlange, aber ein paar Leute drängelten sich vor und gingen als Erste hinein, und dann kam ein Mann mit einem Gipsbein, der in einem Rollstuhl saß, sagte: »Entschuldigen Sie« und schob sich ebenfalls an ihr vorbei, woraufhin es auch in diesem Aufzug keinen Platz mehr gab. Sie schaffte es schließlich, den dritten Aufzug zu nehmen, weil eine Krankenschwester sich ihrer erbarmte. Sie hielt ihren Arm vor die Tür, und Petunia konnte in die so entstandene Lücke hineinschlüpfen. Die Krankenschwester lächelte Petunia zu, während der Aufzug losfuhr. Neben ihr standen vier sehr große junge Ärzte und sprachen über ein Rugbyspiel, das am nächsten Wochenende stattfinden sollte.
Sie stieg im achtzehnten Stockwerk aus und stellte sich fünf Minuten lang an, um der Frau am Empfang Bescheid zu sagen, dass sie jetzt da war. Die Frau fragte sie nach ihrem Namen, tippte etwas in ihren Computer und gab Petunia dann wortlos eine Karte. Petunia schloss daraus, dass sie sich jetzt hinsetzen und darauf warten sollte, dass man sie aufrief. Also nahm sie auf einem der Plastikstühle im Wartezimmer Platz. Der Stuhl war grellorange, hatte ein Loch in der Lehne und einen leicht abschüssigen Sitz, so dass Petunia die ganze Zeit ihren Po wieder hochrücken musste,damit sie nicht auf die Erde rutschte. Neben ihr saß eine asiatische Familie, die aus Großmutter, Tochter, Schwiegersohn und zwei Enkelkindern bestand. Sie hatten Bücher und Videospiele für die Kinder mitgebracht sowie Zeitschriften und eine Plastiktüte mit Snacks. Die Familie hatte ganz offensichtlich Erfahrung mit langen Wartezeiten und war bestens dafür ausgerüstet. Petunia kam sich wie ein Amateur vor.
Nach ungefähr einer Stunde nahm sie allen Mut zusammen und fragte am Empfang, ob man sie vergessen hatte. Es war ihr noch nie passiert, dass jemand zugegeben hätte, sie tatsächlich vergessen zu haben, aber es konnte auf keinen Fall schaden, die Leute daran zu erinnern, dass man noch da war. Die Frau am Empfang schaute kurz von ihrem Computer hoch und dann wieder auf ihre Tastatur, bevor sie Petunia eine Antwort gab.
»Es gibt ein Wartesystem«, sagte sie.
»Ich frage nur, weil mein Termin um halb zwei war, und jetzt ist es Viertel vor drei.«
»Alle Kliniktermine bei Dr. Watson sind um halb zwei«, sagte die Frau.
»Ach so. Ich verstehe«, sagte Petunia. Die Frau schaute noch einmal kurz auf, und Petunia ging und setzte sich wieder, während ihr Herz noch schneller und heftiger klopfte als sonst.
Fünfundvierzig Minuten später rief die Frau »Miss Huuh, äh, Miss Howe«, und Petunia ging ins Untersuchungszimmer. Eine junge Ärztin in einem weißen Kittel lächelte sie an und sagte guten Tag. Petunia wusste, dass es eine Ärztin und keine Sprechstundenhilfe war, weil sie ein Stethoskop um den Hals hängen hatte. In der hinteren Ecke des Zimmers saß ein ungefähr fünfzig Jahre alter Mann und tippte etwas in einen Computer. Der Raum stand voller kompliziert aussehender Geräte mit lauter Kabeln und Drähten und Bildschirmen. Es gab eine Liege mit einem Vorhang, der zurückgezogen war. Über ihr hing an einem Ständer eine glänzende Metallvorrichtung. Die Vorrichtung erinnerte Petunia an einen der Naturfilme, die sie sich manchmalim Fernsehen anschaute, aber so, als sei etwas darin furchtbar schiefgelaufen, denn das Gerät sah aus wie ein riesiges Insekt aus Stahl.
Die Ärztin zeigte auf einen Stuhl. »Es dauert nur einen Augenblick, dann kommt er zu Ihnen«, sagte sie. Der ältere Arzt blieb sitzen und tippte noch fünf Minuten weiter. Dann sagte er:
»Ja, guten Tag. Und Sie sind?«
»Mrs Howe.«
Der Arzt schaute auf seine Notizen.
»Symptome schlimmer geworden?«
»Wie bitte?«
Und als könnte die Tatsache, dass sie seine Frage nicht sofort verstanden hatte, nur bedeuten, dass sie taub war, sagte er dann wesentlich lauter:
»Sind die Symptome, die Sie angegeben haben, schlimmer geworden? Das, was mit Ihnen nicht stimmte, hat sich das Ihrem Gefühl nach verschlimmert? Hat sich etwas verändert? Gibt es irgendwelche neuen Probleme?«
Petunia beschrieb ihre Symptome. Als sie zu der Sache mit dem Sehvermögen ihres linken Auges kam,
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