Kapital: Roman (German Edition)
hatte sie den Eindruck, dass der Arzt ihr jetzt mit mehr Aufmerksamkeit zuhörte. Er hatte braune Haare, die so aussahen, als wären sie in seiner Jugend einmal rot gewesen, und auch sein Gesicht hatte eine leicht rötliche Farbe. Er sah aus wie jemand, der viel Alkohol trank und oft wütend wurde und seine Wut benutzte, um seinen Willen durchzusetzen. Ein sehr effektiver Mann. Darüber hinaus wirkte er wie jemand, der nicht gerne zuhörte und der sich sehr schnell eine Meinung bildete über das, was man ihm sagte, weshalb er dem Rest dann keine Aufmerksamkeit mehr schenkte. Petunia konnte viel über einen Menschen erkennen, allein an der Art und Weise, wie er wartete, während andere Leute etwas sagten oder taten. Das lag vielleicht daran, dass sie selbst einen so großen Teil ihres Lebens damit verbracht hatte, sich um die Belange anderer Leute zu kümmern, die ihre Wünsche und Bedürfnisseviel besser ausdrücken konnten als sie selbst. Dieser Arzt hier war vollkommen unfähig zu warten. Er zitterte geradezu vor Ungeduld.
»Aha«, sagte er. »Wie ist es mit der Müdigkeit und den Gleichgewichtsstörungen? Fühlen Sie sich müde oder schwindelig?«
Petunia erklärte ihm ausführlich, inwieweit das zutraf. Während sie redete, merkte sie, wie sie immer besorgter wurde. Die Beschreibung ihrer eigenen Symptome führte dazu, dass sie sich zum ersten Mal fragte, ob sie tatsächlich schlimm krank war und ob sie vielleicht sterben würde. Der Gedanke war ihr schon früher einmal durch den Kopf gegangen, aber jetzt schien er sich festzusetzen. Es war ein wenig peinlich, dass sie erst zweiundachtzig werden musste, damit ihr so etwas überhaupt in den Sinn kam. Aber in diesem Augenblick fragte sich Petunia zum ersten Mal, wie es wohl sein würde zu sterben. Das Gespräch mit diesem Arzt war daran schuld. Vielleicht, weil er so gelangweilt und unpersönlich wirkte. Das erinnerte sie an die endgültige Unpersönlichkeit des Todes: ein intimer Augenblick, der für alle Menschen gleich war und dem niemand entkommen konnte.
»Es gibt ein paar Sachen, die wir ausschließen müssen«, sagte der Arzt. »Dazu gehört als Erstes ein Gehirntumor.«
»Ich habe einen Gehirntumor?«, fragte Petunia. Sie sah, wie die Augen des Arztes kurz aufflackerten. Also hielt er es in der Tat für möglich – vielleicht dachte er sogar, dass dies von allen Möglichkeiten die wahrscheinlichste war. Aber das gab er keineswegs zu. Stattdessen sagte er in einem genervten pseudogeduldigen Tonfall:
»Nein. Wenn wir davon sprechen, dass wir etwas ausschließen müssen, dann meinen wir damit, dass wir erst nachprüfen müssen, ob es als Grund für eine Krankheit überhaupt in Frage kommt. Also gehen wir die Liste möglicher Ursachen durch und schließen sie eine nach der anderen aus. Und was am Ende übrig bleibt, das ist dann das, was mit Ihnen nicht stimmt. Verstehen Sie? Es geht nicht darum, einen Tumor zu heilen, sondern darum, herauszufinden,ob Sie überhaupt einen haben. Ist das jetzt deutlicher geworden?«
Er war ein viel wichtigerer Mensch als sie, das bekam Petunia ganz klar zu spüren. Vielleicht lief das Ganze letztendlich genau darauf hinaus. Er war wichtig, seine Zeit war wichtig, und sie war es nicht. Dabei war es nicht etwa so, als fände sie sich selbst nicht wichtig. Es war einfach nur offensichtlich, dass sie viel unwichtiger war als er. Sein Zuspätkommen, seine Hast, seine Ungeduld, alles an ihm war darauf angelegt zu signalisieren, dass er von größerer Bedeutung war als die Person, mit der er sich unterhielt.
Petunia hatte immer schon dazu geneigt, die Dinge aus der Sicht ihres Gegenübers zu sehen. Das war ja eigentlich etwas Liebenswertes, aber sie fragte sich manchmal, ob es bei ihr vielleicht zu einem Fehler geworden war. Genauso wie ihre stille Art, ihre Bescheidenheit und ihre Angst, die Leute auf sich aufmerksam zu machen, oder arrogant zu wirken. All das waren positive Eigenschaften, die sie zu weit getrieben hatte. Sie stellte sich einen Moment lang vor, wie sie auf diesen selbstbewussten, missgelaunten Mann wirken musste: eine kleine mausgraue alte Frau, der man alles zweimal erklären musste und die nicht viel Platz beanspruchte. Sie war nur eine von zahllosen anderen Leuten, mit denen er heute zu tun gehabt hatte.
»Ich verstehe. Glauben Sie, dass ich einen Gehirntumor habe?«, fragte Petunia.
Der Arzt sah sie an, ohne eine Miene zu verziehen. Er hielt ihr offensichtlich zugute, dass sie begriffen hatte, was auf
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