Kapital: Roman (German Edition)
ging schon seit fast fünfzehn Jahren in die Brixton-Moschee und hatte nicht vor, jetzt damit aufzuhören. Er schloss sein Fahrrad auf, das er, wenn es nicht gerade regnete, immer an das Geländer vor dem Laden ankettete, denn dort konnte er es vom Tresen aus sehen. Die ersten zwanzig Meter fuhr er auf dem Bürgersteig und wechselte dann am Zebrastreifen auf die Straße.
Es gab erstaunlich wenig Verkehr, obwohl im Augenblick in London eigentlich der Teufel los war. Die Leute rasten bei ihren Weihnachtseinkäufen durch die Gegend, als hinge ihr Leben davon ab. Die nächsten drei Tage würde auf jeder Einkaufsstraße im Land der schiere Wahnsinn herrschen, und Milliarden von Pfundwürden den Besitzer wechseln. Ungefähr die Hälfte der Leute auf der Straße schleppten sich mit Weihnachtseinkäufen ab. Es war ein vollkommen absurder Gedanke, dass die Christen diese ganze Sache hier tatsächlich für ein religiöses Fest hielten. Es war das unverhohlen Heidnischste, was Shahid je gesehen hatte. Ahmed hatte es nicht geschafft, standhaft zu bleiben, als Fatima auch ihren Anteil an dem ganzen Rummel haben wollte, und so kam es, dass die Kinder Geschenke bekamen, obwohl die Kamals eigentlich gar nicht Weihnachten feierten. Der kleine Mohammed würde später davon profitieren, dass seine verwöhnte große Schwester diese neue Tradition ins Leben gerufen hatte. Sie würde bestimmt keinerlei Hemmungen haben, ihm ihre Tricks zu verraten. Shahid schlängelte sich durch den Verkehr, überfuhr zwei rote Ampeln und schrammte dabei kurz am Tod vorbei, als ein Auto aus einer Seitenstraße auf die Acre Lane fuhr, ohne ihn zu bemerken oder anzuhalten. Dann fuhr er auf dem Bürgersteig gegen die Einbahnstraße in Richtung Gresham Road und kam gerade noch rechtzeitig zur Gebetswaschung.
Neben ihm am Becken stand ein Busfahrer aus der Karibik, dessen Namen Shahid nicht kannte, den er aber seit über einem Jahrzehnt immer mal wieder in der Moschee gesehen hatte. Er hatte die Angewohnheit, seine Hände überaus langsam und meditativ unter dem Wasserhahn ineinanderzureiben. Das war Shahid schon ein paarmal aufgefallen. Der Busfahrer benutzte das Waschungsritual, um innerlich ein paar Gänge herunterzuschalten. Das mochte Shahid so an diesen Freitagsgebeten: Sein Leben bekam dadurch eine Spur von Kontinuität, das Ritual umspannte seine Vergangenheit und seine Zukunft. Und er mochte es, dass er hier lauter bekannte Gesichter sah und alle freundlich zueinander waren. Einiges der Rhetorik und insbesondere den darin enthaltenen Zorn konnte er nicht mehr ganz nachempfinden – sie entsprachen nicht mehr seiner Gemütslage oder seinem Naturell –, aber die anderen Dinge waren für ihn von einiger Bedeutung. Er war nie ein besonders guter Zuhörer gewesen, aber er liebte es zu beten.Er liebte den physischen Akt, den man vollzog, wenn man sich im Gebet niederwarf. Nicht fünf Mal am Tag, natürlich. Das hatte er früher gemacht. Wer hatte jetzt schon noch die Zeit dafür? Aber wenn er betete, war das einer der ganz wenigen Augenblicke in seinem Leben, in denen er das Gefühl hatte, wirklich hier zu sein. Es war kein Gefühl von Transzendenz: Weder verließ er seine körperliche Existenz, noch hatte er Eingebungen aus anderen Wirklichkeitsebenen. Manche behaupteten, man könne das Selbst hinter sich lassen und in der Verzückung des leidenschaftlichsten und frömmsten Gebets einen Blick auf das Paradies erhaschen. Das hatte Shahid noch nie erfahren. Aber wenn er betete, dann betete er wirklich, überließ sich voll und ganz dem Augenblick und ließ es zu, dass die Worte und Bewegungen des Rituals von ihm Besitz ergriffen. Besser konnte er es nicht – aber für ihn war das gut genug.
Die Lesung war aus der Sure 13, Ar-Ra’ad, Der Donner. Shahid, dessen Arabisch gar nicht so schlecht war, konnte den Worten einigermaßen folgen.
»Allah ist es, Der die Himmel, die ihr sehen könnt, ohne Stützpfeiler emporgehoben hat. Dann herrschte Er über Sein Reich. Und Er machte die Sonne und den Mond dienstbar; jedes Gestirn läuft seine Bahn in einer vorgezeichneten Frist. Er bestimmt alle Dinge. Er macht die Zeichen deutlich, auf dass ihr an die Begegnung mit eurem Herrn fest glauben mögt.
Und Er ist es, Der die Erde ausdehnte und feststehende Berge und Flüsse in ihr gründete. Und Er erschuf auf ihr Früchte aller Art, ein Paar von jeder Art. Er lässt die Nacht den Tag bedecken. Wahrlich, hierin liegen Zeichen für ein nachdenkendes Volk.«
»Zeichen
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