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Kapital: Roman (German Edition)

Kapital: Roman (German Edition)

Titel: Kapital: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lanchaster
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gedachte. Er war nach London gekommen, um bei einem Freund zu wohnen, aber der Freund hatte ihn einfach rausgeschmissen. Dabei hatte er ein kompliziertes Alibi vorgeschoben, das mit Verwandten zu tun hatte, die vielleicht zu Besuch kommen würden und für die er das Gästezimmer freihalten wollte; und dann sei da noch eine große Sache bei der Arbeit, die er demnächst machen müsse, und so weiter und so weiter. Shahid erinnerte sich jetzt wieder, leider ein wenig zu spät: Sie hatten sich in Tschetschenien eigentlich gar nicht so gut verstanden. Iqbal war die ganze Zeit wütend gewesen, und das nicht nur wegen großer Themen und globaler Ungerechtigkeiten. Er konnte sich auch fürchterlich über ganz nebensächliche Dinge aufregen; darüber, dass kein heißes Wasser mehr da war oder vom Brot nur noch die Kruste übrig blieb, und die Kruste mochte er nicht. Und beim geringsten Anlass verknüpfte er die beiden Bereiche einfach miteinander: Wenn eine Tankstelle in Österreich das Klo abgeschlossen hatte, weil die Spülung nicht funktionierte, dann war das ganz klar Teil einer weltumfassenden Verschwörung mit dem Ziel, allen Muslimen den Respekt zu verweigern.
    Shahid fand, die beste Methode, um schwierige Zeiten zu meistern und eigentlich auch das Leben im Allgemeinen, war, die Dinge einfach so zu nehmen, wie sie kamen. Es gab nur wenigeProbleme, die man nicht dadurch lösen konnte, dass man sie einfach ignorierte. Iqbal ließ sich offensichtlich nur schwer ignorieren, aber wenn er ihn ein paar Tage bei sich wohnen ließ, würde er mit Sicherheit irgendwann wieder Leine ziehen, und alles würde wieder zur Normalität zurückkehren.
    »Brüder sollten einander nicht so behandeln. Und wir sind doch Brüder, oder? Brüder sollten so etwas nicht tun.« Iqbal ging hin und her.
    »Ich hab doch gesagt, du kannst hier wohnen«, sagte Shahid.
    Iqbal schien sich zusammenzureißen.
    »Und ich bin sehr dankbar. Ich empfinde angemessene Dankbarkeit. Vergib mir, dass ich mich von meinem Ärger überwältigen ließ.«
    »Kein Problem. Ich schaue das hier noch zu Ende, und dann zeige ich dir, wo du das Wichtigste findest und wie das mit dem Schlafsofa geht und das alles.«
    »Du bist ein guter Mensch.«
    »Ne, echt, kein Problem, wirklich.«
    Aber Iqbal blieb hartnäckig. »Du bist ein guter Mensch. Vielleicht hast du diese Wahrheit über dich selbst vergessen. Vielleicht ist das etwas, das andere nicht sehen können oder nicht wollen, dass du es siehst. Aber du bist ein guter Mensch.«
    Nun, so gesehen fiel es fast schwer, nicht zu glauben, dass da etwas dran war an dieser Shahid-ist-ein-guter-Mensch-Theorie. Shahid zuckte bescheiden mit den Schultern, gerade in dem Moment, als auf dem Fernsehbildschirm Mr Burns seine Hände zu einem Dach faltete und sagte: »Ausgezeichnet!«

26
    Während er am Heiligabend in der Jubilee-Strecke der U-Bahn nach Hause fuhr und sich an einem Haltegriff festhielt, dachte Roger darüber nach, wann wohl der beste Zeitpunkt wäre, um Arabella von seinem nicht existenten Bonus zu erzählen. Zwar war Arabella eine Meisterin darin, das Leben mühelos aussehen zu lassen, aber es gab auch solche Momente, wo ihr diese Gabe ganz plötzlich und radikal abhandenkam. Roger spürte instinktiv, dass das hier einer dieser Momente werden könnte.
    Es wäre natürlich besser gewesen, wenn er es schon längst getan hätte. Aber am Freitag war er einfach zu benommen gewesen, zu schockiert, zu fassungslos, zu krank. In diesem Zustand konnte er unmöglich eine lange Unterhaltung darüber führen, was mit seiner Million Pfund passiert war … Und am Ende des Tages war der Impuls, damit herauszuplatzen, ohnehin schon lange verflogen. Ein weniger starker Mann als er wäre wahrscheinlich sofort nach der ganzen Kotzerei nach Hause geflohen, dachte Roger. Aber er war aus härterem Holz geschnitzt. Und überhaupt, was hätte er schon zu Hause tun können? Dasitzen, flennen und Trübsal blasen und darauf warten, dass Arabella vom Shoppen nach Hause kam? Nein. Er hatte es runtergeschluckt, es genommen wie ein Mann und hatte den Rest des Tages damit verbracht, sich in seinem Büro zu verstecken und so zu tun, als würde er arbeiten.
    Am 21. Dezember, dem Tag, an dem der Vergütungsausschuss seine Nachrichten verbreitete, wurde bei Pinker Lloyd nicht gerade viel Arbeit erledigt. Ab und zu riskierte Roger einen Blick durch das Fenster und überschaute die Lage im Handelsraum. Der Geräuschpegel betrug vielleicht gerade mal ein Viertel

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