Kapital: Roman (German Edition)
auf eine eher philosophische Weise wütend, wütend auf das Leben im Allgemeinen. Aber das war nicht das Gleiche wie eine ganz spezifische Wut, eine, die nicht nur den Wunsch nach Veränderung mit sich brachte, sondern auch den Willen, etwas zu tun. Das kam erst, als sich Quentina bei einem Sturz den Knöchel brach und ins Krankenhaus gebracht wurde. Der behandelnde Arzt teilte ihr mit, sie habe ihren Knöchel nicht gebrochen, sondern nur verstaucht.
»Die beste Behandlung ist absolute Ruhe«, sagte der Arzt. »Wollen Sie mit mir ausgehen?«
»Nein.«
Quentina verbrachte die nächsten sechs Wochen damit, so zu tun, als ginge sie ihm aus dem Weg, gab sich dabei aber immer weniger Mühe. Sein Name war John Zimbela, und er war, wie Quentina allmählich klar wurde, der bewundernswerteste Mensch, dem sie je begegnet war. Und auch der wütendste. Er war geradezu ekstatisch vor Wut über die Maßnahmen, die die Mugabe-Regierung gegen Aids ergriffen hatte, wenn man da überhaupt von Maßnahmen reden konnte, denn die Politik der Regierung bestand hauptsächlich aus Lügen und Ausflüchten. Zusammen mit einigen seiner Freunde gehörte er einer Untergrundorganisation an, die illegal Flugblätter über HIV druckte und verteilte. Darin standen Informationen zu Safer Sex, den Infektionsraten, dem Verlauf der Krankheit und den Behandlungsmethoden, die in reicheren Ländern zur Verfügung standen. Er riskierte damit seinen Job und vielleicht auch sein Leben. Obwohl sie schon von Aids gehört hatte, als sie ihn kennenlernte, hatte sie trotzdem geglaubt, der Tod ihres Bruders sei eine Art Unfall gewesen, ein vielleicht sehr weit verbreiteter Unfall, aber trotzdem im Grunde die Folge höherer Gewalt. Jetzt aber wurde ihr klar, dass Roberts Tod die Folge einer Reihe von Regierungsentscheidungen gewesen war, die letzten Endes auf institutionalisierten Totschlag hinausliefen – nicht Mord, so konnte man es nicht gerade nennen, aber Totschlag. Und dann war sie ebenfalls wütend geworden und hattesich John und seiner Organisation angeschlossen. Sie hatte damit begonnen, gegen Mugabe zu arbeiten, und damit aufgehört, politische Prinzipien nur zu studieren. Jetzt lebte sie sie auch.
Quentinas Vater hatte während der Revolution im Busch gekämpft. Er war nicht nur auf dem Papier Revolutionär gewesen, sondern ein echter Freiheitskämpfer, der sich von Mehlwürmern ernährt und fünf Jahre lang ein Gewehr getragen hatte. Mittlerweile war er ein ziemlich hochgestelltes Mitglied der ZANU-PF, mit einem guten Job im Bildungsministerium. Die Bildungspolitik war eine der Prioritäten des noch jungen Landes, und Simbabwe war stolz darauf. Quentina wuchs nicht gerade auf dem Rücksitz eines Mercedes auf, und es war auch nicht so, als hätte ihre Familie das Gefühl, es würde ihr etwas Besonderes zustehen, aber trotzdem führten sie ein angenehmes, sicheres Leben. Sie gehörten zum Establishment. Jetzt hatte sich das alles geändert. Sie hatte sich außerhalb des Gesetzes gestellt und riskierte damit auch die Sicherheit ihrer ganzen Familie. Das machte ihr bei dem, was sie tat, die meisten Sorgen. Sie konnte ihren eigenen Mut bewundern, solange er nur mit ihr selbst zu tun hatte, aber sobald ihre Familie ins Spiel kam, sah sie ihn schon fast als Luxus an. Manchmal fragte sie sich, was Robert wohl gewollt hätte, fand aber nie eine Antwort. Alles, woran sie sich wirklich im Zusammenhang mit ihrem Bruder erinnern konnte, waren seine Geburt und sein Tod. Sie hatte das Gefühl, nicht mehr genau zu wissen, wie ihr Bruder tatsächlich gewesen war. Es war ganz so, als hätte Roberts Tod nicht nur Robert selbst ausgelöscht, sondern auch alle Erinnerungen an ihn.
Einen Monat nachdem sie damit angefangen hatte, Flugblätter zu verteilen und zu geheimen Treffen zu gehen, starb ihr Vater an Lungenkrebs. Es wurde nie eine Diagnose gestellt, er starb einfach daran. Sie fanden erst durch eine Autopsie heraus, woran er gelitten hatte.
Quentinas politische Karriere dauerte genau neun Monate. Sie begann mit einer Kampagne gegen Aids und dehnte sich dann ausauf Kampagnen gegen willkürliche Verhaftungen, Prügelattacken und andere Menschenrechtsverstöße. Quentina hatte damals geglaubt, das Ganze sei ein Wettrennen zwischen zwei Möglichkeiten: Entweder wurde sie verhaftet, oder die ZANU-PF würde sich rechtzeitig von Mugabe lossagen. Sie hatte auch geglaubt, die Chancen für beide Möglichkeiten stünden ungefähr gleich. Aber da hatte sie sich geirrt. Sie
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