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Kapital: Roman (German Edition)

Kapital: Roman (German Edition)

Titel: Kapital: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lanchaster
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wurde verhaftet, und als man sie das letzte Mal verprügelte, sagte man ihr, das Einzige, was sie davon abhielte, sie zu Tode zu vergewaltigen, sei der Status, den ihr Vater einmal besessen habe; aber der Schutz, der ihr dadurch gewährt worden war, sei jetzt null und nichtig. So kam es, dass sie nun hier stand, drei Jahre später, in einer Kirche in London, und dem Chor dabei zuhörte, wie er versuchte, mit Mashinko Wilsons Melodiestimme in »O Come All Ye Faithful« zu konkurrieren.
    Die Messe ging zu Ende, und die Gemeinde verließ langsam die Kirche. Die Leute liefen umher, schüttelten sich die Hände und tauschten Neuigkeiten aus. Quentina kannte ein paar der Kirchgänger, unterhielt sich aber nur kurz mit ihnen. Sie hatte eine Mission zu erfüllen. Mashinko war wie üblich von einem kleinen Fanclub umringt. Seine Bewunderer plauderten mit ihm und sagten ihm, wie toll er doch sei. Und wie üblich schien er zu leuchten, schien eine große, strahlende Wärme von ihm auszugehen. Sie hätte warten können, bis sich die Gruppe zerstreute, aber dann hätte sie lange herumstehen müssen. Dadurch hätte sie aber schwach und unentschlossen gewirkt – und somit seiner unwürdig. Die Menschen bestimmen ihr eigenes Schicksal, aber die Umstände dazu können sie sich nicht wählen. Quentina ging geradewegs auf Mashinko zu. Er lächelte nachsichtig, während ihn eine kleine, ungefähr sechzig Jahre alte Frau am Arm hielt. Quentina baute sich vor ihm auf und tat etwas, das sie sehr gut konnte: Sie gewann seine volle Aufmerksamkeit.
    »Ich wollte nur sagen, dass ich das wunderschön fand«, sagte Quentina. Mashinkos Gesicht, das ohnehin schon geleuchtet hatte, wurde noch strahlender. Das war ihr für den Augenblick genug.Er würde sich das nächste Mal an sie erinnern. »Auf Wiedersehen. Frohe Weihnachten«, sagte sie, drehte sich um und ging. Dann trat sie hinaus in die kalte Dunkelheit des Londoner Weihnachtsabends.
    Die Erinnerung konnte sich mit der Hoffnung nicht messen. Es war ein ungleicher Kampf. Schon ein kleines bisschen Hoffnung war genug.

25
    »Können wir uns treffen?«, stand in der SMS. Shahid hatte keine Ahnung, von wessen Handy sie geschickt worden war, also schrieb er zurück:
    »Ok, aber wer bist du?«
    Shahids erster Gedanke war, dass die Nachricht vielleicht von einer Frau stammte, einer, die er irgendwann mal abzuschleppen versucht und dann vergessen hatte, oder eine frühere Freundin, die immer noch an ihm interessiert war, denn warum hätte sie sonst seine Nummer behalten sollen? Da war zum Beispiel mal eine Frau gewesen, die er an der U-Bahn-Station Clapham South getroffen hatte. Ihr war beim Aussteigen ein Stapel von Papieren auf den Bahnsteig gefallen, und die anderen Passagiere hatten sich natürlich einfach grob vorbeigedrängelt. Shahid hatte ihr geholfen, die Papiere aufzusammeln, und sie waren ins Gespräch gekommen. Sie studierte Jura. Er war mit ihr in ein Café gegenüber gegangen, sie hatten Telefonnummern ausgetauscht, und dann hatte er ungefähr eine Woche später sein Handy verloren und sich danach immer mal wieder gefragt, ob sie vielleicht die Eine, die Richtige gewesen wäre … das war jetzt an die sechs Monate her. Die Nachricht könnte von ihr sein, das war schon möglich, wer weiß. Er hatte eine Annonce unter der Rubrik »Verlorene Bekanntschaften« in der Metro geschaltet, auf die sich jedoch niemand gemeldet hatte. Aber selbst wenn es nicht die Jurastudentin war – Hauptsache, es war eine Frau.
    Die Antwort war eine Enttäuschung. »Iqbal. Wann, wo?«
    Toll. Genau darauf habe ich gewartet, dachte Shahid. In Erinnerungen über Tschetschenien schwelgen mit einem durchgeknallten Jihadisten aus Belgien, den ich seit über zehn Jahren nicht gesehen habe. Er schrieb zurück:
    »Dienstag um 6 ok? Pelham Road 13.«
    Und da war er nun, an Heiligabend, schaute mit einem Auge die Simpsons und versuchte, sich darüber klar zu werden, wie Iqbal es bloß geschafft hatte, ihn derart in die Ecke zu manövrieren. Da hatte er doch tatsächlich zugestimmt, ihn ein paar Tage bei sich wohnen zu lassen.
    »Ich wurde im Stich gelassen«, sagte Iqbal gerade. »Dieser Freund hat mich im Stich gelassen. Wenn das nicht passiert wäre, hätte ich mich gar nicht erst an dich wenden müssen.«
    Er war wütend, versuchte aber, sich gleichzeitig bei Shahid einzuschmeicheln. Es schien so, als wollte Iqbal ihn unbedingt von der Rechtmäßigkeit seiner Wut überzeugen, so als sei sie etwas, das er zu verkaufen

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