Kapital: Roman (German Edition)
Mashinko Wilson hingehen und ihr Interesse an ihm bekunden.
Quentina mochte auch die Kirche selbst. Anders als die umgebenden Häuser war sie aus grauem Stein – möglicherweise Granit. Sie hatte einen sehr traditionellen Baustil, mit einem relativ schmalen Mittelschiff und hohen Fenstern in der Apsis. Am hinteren Ende hatte man eine kleine Ecke mit Glaswänden abgetrenntund daraus eine Art Spielzimmer gemacht. Während der Gebete und der Predigt konnte man es darin oft kreischen und poltern hören, und der Pfarrer hatte manchmal Schwierigkeiten, dagegen anzukommen.
Zu Hause, in Harare, war Quentina jedes Jahr an Weihnachten zusammen mit ihrer Mutter in die Kathedrale St Mary’s gegangen. Ihre Mutter war die Christin in der Familie: Quentinas Vater hatte oft gesagt, sie sei so fromm, dass es für den Rest der Familie reichte. Sonntags nahm sie immer eines ihrer Kinder mit in die Kirche, Quentina oder ihren Bruder oder ihre Schwester, es schien ihr egal zu sein, wer, solange immer einer mitkam. Sie hätte es gerne gesehen, wenn alle an Ostern oder Weihnachten mitgekommen wären, aber sie bestand nicht darauf. Quentinas Vater wurde damit nicht behelligt, in friedlichem gegenseitigen Einverständnis. Quentina mochte diese Kirchenbesuche; sie waren eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen sie mit ihrer Mutter allein sein konnte. Sie mochte auch die hochtrabende Sprache der alten Bibel und die exotischen Bilder, mit denen die Weihnachtsfeier im fernen, dunklen und kalten Norden der Welt heraufbeschworen wurde. Es lag eine gewisse Ironie in der Tatsache, dass sie jetzt selbst in diesem kalten dunklen Norden war, denn das, was sie an Weihnachten am meisten mochte, waren die Lichter, die Farben und das Gefühl von Wärme und Geborgenheit.
Das Baby als die mächtigste Person der Welt. Dieser Gedanke rief einen starken Widerhall bei Quentina hervor, denn sie hatte das aus erster Hand erfahren – zwei Mal. Quentina selbst war ein Kind der Revolution gewesen. Sie war in dem Jahr geboren worden, in dem Simbabwe unabhängig wurde: 1980. Ihr Bruder Robert kam fünf Jahre später zur Welt, und sie konnte sich noch genau an das Gefühl von großer Ungerechtigkeit erinnern, so schnöde verdrängt worden zu sein, aber gleichzeitig auch an die Magie, mit der sich das Leben um dieses neue Wesen herum auf ganz neue Weise anordnete. Robert hatte ein zerdrücktes, wütendes Gesicht gehabt, als er zur Welt kam, und seine Mundhöhle, dieman sehr oft sehen konnte, weil er andauernd schrie, war unglaublich rosa gewesen. Ein solches Rosa hatte die Welt noch nicht gesehen. Und auch die Zärtlichkeit und Hingabe ihres Vaters und ihrer Mutter waren ganz außerordentlich. Viel später wurde Quentina klar, dass ihre Eltern zu ihr wahrscheinlich genauso gewesen waren. Damals aber war sie nur neidisch, fühlte sich ungerecht behandelt und nahm es ihren Eltern übel, dass sie von diesem Eindringling, der so furchtbar viel Macht besaß, einfach verdrängt worden war.
Die Geburt ihrer Schwester hatte ihr nicht so viel ausgemacht. Sarah war von dem Moment ihrer Geburt an so lieb und friedfertig, dass man ihr einfach nichts übelnehmen konnte, und zwanzig Jahre später schien sie immer noch genauso lieb und friedfertig zu sein. Robert hingegen war wahnsinnig wütend gewesen, als Sarah in sein Leben trat, wie Quentina damals mit Begeisterung feststellte. Soll er doch am eigenen Leib erfahren, wie sich das anfühlt. Die furchtbare Macht des neugeborenen Kindes. Das wehrlose Kind, das die Welt regiert. Das Bündel in der Krippe, Präsident der ganzen Welt. Versuch doch mal, damit klarzukommen, kleiner Bruder!
Gerade weil sich Quentina Roberts schreckliches, unverzeihliches Jüngersein so zu Herzen genommen hatte, traf sie sein Tod besonders schwer. Das erste Symptom seiner Krankheit war ein Husten, der einfach nicht wegging, gefolgt von einer Kaskade weiterer Symptome, von denen anfänglich keines sehr schlimm zu sein schien. Aber kein einziges Symptom ging weg oder wurde besser, bis er schließlich nach einem Jahr von lauter offenen Wunden bedeckt war, Atemnot hatte und für jeden erkennbar dahinsiechte. Nach weiteren drei Monaten war er tot. Es war natürlich Aids gewesen. Was auch sonst? Der junge Mann, der früher einmal der Säugling im Mittelpunkt der Welt gewesen war, das Christkind in seiner Krippe.
Vielleicht wäre das an sich noch nicht genug gewesen, um die Richtung zu ändern, die Quentinas Leben eingeschlagen hatte.Sein Tod machte sie
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