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Kapital: Roman (German Edition)

Kapital: Roman (German Edition)

Titel: Kapital: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lanchaster
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aber andererseits wäre sie durch die Beschäftigung mit den Jungs auch abgelenkt sein. Okay, das war also der Plan. Er würde es ihr am 27. erzählen, draußen auf dem Land. Vielleicht sollte er mit ihr einen Spaziergang machen und es ihr währenddessen sagen. Er würde Joshua in einer Kindertrage auf dem Rücken haben. Vielleicht hätte sie dann ja eher Hemmungen, ihn anzubrüllen. Roger fühlte sich direkt besser, wie immer, wenn er einen Plan gefasst hatte.
    Er stieg die Treppen der U-Bahn-Station hoch und trat hinaus in die Dunkelheit des Weihnachtsabends. Auf der Hauptstraße herrschte völliges Chaos: Die eine Hälfte der Leute erledigte in allerletzter Minute ihre Weihnachtseinkäufe, während die andere Hälfte fest entschlossen war, sich direkt am ersten Abend der Feiertage so richtig die Kante zu geben. In den Bars wimmelte es von Menschen. Roger musste andauernd irgendwelchen kaufwütigen oder besoffenen Passanten ausweichen. Überall läuteten die Kirchenglocken. Einen Moment lang war Roger versucht, nach seiner Heimkehr die gesamte Familie in die Messe zu schleppen, damit sie ein paar Weihnachtslieder und die Weihnachtsgeschichte zu hören bekamen. Aber das war nicht wirklich ihr Ding. Und Josh würde ohnehin schon im Bett sein. Nein: lieber eine Dusche und dann ein Glas Sekt. Vielleicht könnten sie sogar Sex haben. An Feiertagen ließ Arabella ihn manchmal ran.
    Dann war Roger zu Hause. Als er ins Haus trat, stieß er mit der Tür gegen Pilars Koffer – stimmt, sie wollte ja zurück in dieses lateinamerikanische Land, aus dem sie stammte, Kolumbien oder so. Am anderen Ende des offenen Wohnraums flackerte im Fernsehen eine der japanisch anmutenden Zeichentrickserien, die Conrad immer guckte. Er hatte wahrscheinlich wie immer den Daumen im Mund, während er vor dem Bildschirm saß.
    Pilar tauchte plötzlich an der Tür auf. Sie schien in Eile zu sein.
    »Mr Yount, vielen Dank, ich geh jetzt«, sagte sie. »Josh ist oben. Liegt schon im Bett.«
    »Klasse, wunderbar, tausend Dank.«
    »Frohe Weihnachten«, sagte Pilar. »Auf Wiedersehen!« Und weg war sie. Gemessen an Rogers sonstigen Unterhaltungen mit ihr war diese hier schon ziemlich lang gewesen: Manchmal vergingen Wochen, ohne dass er Pilar überhaupt zu Gesicht bekam. Roger ging nach hinten ins Wohnzimmer. Tatsächlich, Conrad lutschte am Daumen und schaute zu, wie sich die Figuren im Fernsehen von raketengetriebenen Weltallfahrzeugen aus bekämpften. Arabella war nicht bei ihm, also war sie wohl oben und versorgte Josh oder telefonierte, um die Planung für die Silvesterparty zu erledigen.
    »Der Papa geht mal kurz unter die Dusche«, sagte Roger. Sein Sohn ließ nicht erkennen, ob er ihn gehört hatte. Nach dem Geräuschpegel und der Dramatik zu urteilen, handelte es sich gerade wohl um einen entscheidenden Moment in der Geschichte. Er ging nach oben, zog sich aus und ließ das Wasser laufen, bis es heiß war. Erst als sich der Raum schon halb mit Dampf gefüllt hatte, stellte er sich unter die Dusche. Er spürte, wie sich seine Muskeln entkrampften und ein wenig von dem Horror der Bonusgeschichte von ihm abfiel. Es war Weihnachten: Zeit für die Familie, Zeit, das Leben zu genießen. Genau. Roger fühlte sich immer sofort besser, wenn er vollkommen sauber war, also wusch er sich die Haare und rasierte sich, beides schon zum zweiten Mal an diesem Tag. Dann zog er die Hose im Schlabberlook an, die er immer nur zu Hause trug, und ging wieder nach unten. Conrad schaute mittlerweile eine andere Serie, die aber fast genauso aussah wie die davor. Es war Zeit für ein Glas Bollinger.
    Auf dem Tisch lag ein Umschlag mit Arabellas großer, verschlungener, extrem weiblicher Handschrift. Roger öffnete ihn.

    Lieber Roger,
ich bin für ein paar Tage verreist, du dummes verwöhntes egoistisches kleines Arschloch. Damit du mal sehen kannst, wie das ist, in meiner Haut zu stecken, du fauler arroganter herablassender verwöhntertypisch männlicher Wichser. Du hast ja keine Ahnung, wie es ist, sich um die Kinder zu kümmern, und du hast überhaupt keine Vorstellung davon, wie die letzten Jahre für mich waren. Das ist jetzt deine Chance, das mal am eigenen Leib mitzukriegen. Pilar ist weg, und die Agenturen für Kindermädchen sind über die Feiertage geschlossen. Herzlichen Glückwunsch, du passt jetzt ganz allein auf deine beiden Söhne auf. Und wo ich hingefahren bin, das geht dich einen Scheißdreck an. Aber ich komme zurück, und wenn ich wieder da bin,

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