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Kaputt in El Paso

Kaputt in El Paso

Titel: Kaputt in El Paso Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick DeMarinis , Frank Nowatzki , Angelika Müller
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Glücklichsein wird gemeinhin überschätzt.«
    Vielleicht ist es das, dachte ich, vielleicht macht das die Reichen anders. Arme müssen an Glück glauben. Hart arbeiten, sparen, anhäufen, dann ist auch das Glück nicht weit. Reiche haben diesen Vorteil nicht.
    Sie schilderte mir Clives Kindheit. Er entstammte keiner wohlhabenden Familie. Leonore, seine Mutter, hatte an einer Psychose gelitten, sein Vater war Alkoholiker gewesen. Seine Mutter hatte in jeder dunklen Ecke ihres Lebens nach dem Übel gesucht und geglaubt, es im kleinen Clive im Überfluss gefunden zu haben. Sie hatte ihn geschlagen, mit dem Gürtel, mit dem Stock, mit ihren Fäusten. Sie hatte so lange auf ihn eingeprügelt, bis er geblutet hatte. Einmal hatte sie ihn sogar mit einem Jochbeinbruch ins Krankenhaus gebracht. Kinderschutz, wie wir ihn heute kennen, hatte es damals noch nicht gegeben, also hatte auch niemand die Misshandlungen unterbunden.
    Doch Leonore Renseller war nicht so krank gewesen, um keine Reue empfinden zu können. Nachdem sie ihn verprügelt hatte, tröstete sie den kleinen Clive, setzte ihn sich auf den Schoß, kuschelte stundenlang mit ihm, weinte, bat ihn um Verzeihung und versprach ihm das Blaue vom Himmel. Clive begann, Prügel mit Zuneigung zu assoziieren. Schwere körperliche Misshandlungen wurden zu einer Art Vorbedingung für Liebe. Zwangsläufig konnte sich sein Sexualleben nicht normal entwickeln.
    »Er war ein erfolgreicher Mensch, doch im Grunde wollte er nur glücklich sein«, sagte Jillian. »Glück war für den Regenmacher gleichbedeutend mit Mona Farnsworth, wenn sie sich auf sein Gesicht hockte.«
    »Regenmacher?«, fragte ich.
    »So nennt man ihn in Finanzkreisen. Den Regenmacher. Clive brauchte nur mit den Armen zu wedeln, sozusagen eine Regenzeremonie abzuhalten und schon fielen Anleger und lukrative Investmentgeschäfte vom Himmel wie Mona Farnsworth’ göttliches Wasser – ja, mir ist bekannt, welchen Begriff er bei ihr benutzen musste. Es war Clive, der die Leute von Helmstrom Enterprises an Land gezogen hatte.« Ich war verblüfft. »Die Leute, die den Themenpark im Upper Valley errichten wollen. Es soll der größte östlich von Phoenix und westlich von Houston werden. Clive ist zu ihnen gegangen, hat seine Show abgezogen und sie haben ihm aus der Hand gefressen. Seine Firma, Cibola Savings and Loan, wird die Hälfte finanzieren, für die andere Hälfte konnten sie – gegen eine hübsche Vermittlungsprovision – eine mexikanische Bank gewinnen. So richtig verstehe ich das nicht, muss ich aber auch nicht.«
    Sie bemerkte, dass ich das Porträt des alten Mannes betrachtete. Er sah aus wie ein gewissenloser Kapitalist aus dem neunzehnten Jahrhundert. In seinen dunklen Augen brannten Gier und Skrupellosigkeit. »Es ist nur Staffage«, sagte sie. »Clive wollte eine Abstammung, die sich bis in die Zeit des ungezügelten Ausbeuterkapitalismus zurückverfolgen lässt. Unseren Gästen tischte er immer auf, dass der Mann auf dem Bild sein Großonkel Clayton Renseller sei, der Eigentümer der Astoria Shipping Company. Meiner Meinung nach ist es ein Porträt des Waffenschmieds von Teddy Roosevelt.«
    Ich hob mein Glas und trank den vierten Tequila auf das Wohl des Waffenschmieds von Teddy Roosevelt. »Ich sollte mich jetzt auf den Weg machen«, sagte ich.
    Sie stand auf. »Ich fahre Sie zu Mona zurück. Ich werde die Nacht nicht hier verbringen, nicht solange Clive oben in seinem Schlafzimmer ist.«
    »Das kann Ihnen keiner verübeln.«
    »Es ist nicht das, was Sie jetzt denken«, sagte sie. »Sie werden vermutlich niemanden treffen, der weniger abergläubisch ist als ich. Ich glaube nicht an Geister, aber ich glaube an Gott. Nicht an den Gott der Christen. Mein Gott ist mehr ein aztekischer Gott oder der Gott der Massai in Afrika. Der alte cholerische Gott der Hebräer kommt meinem nahe. Es ist ein Gott, der die Leute gern verarscht. Er glaubt auch nicht an das Glücklichsein. Er glaubt an Ironie, an den Aufruhr. Er sorgt dafür, dass Ungerechtigkeit herrscht. Erst macht er’s uns in der Hölle gemütlich, dann lässt er die Möbel abholen und wirft uns aus dem Haus. Momentan bin ich die Zielscheibe seines Spotts. Verstehen Sie, würde ich heute Nacht hier schlafen, wäre es genauso wie in all den Nächten der letzten fünf Jahre. Clive liegt drüben in seinem Bett und nimmt mich überhaupt nicht wahr. Alles ginge weiter, wie gewohnt, und das ist es, was mich umtreibt. Nein, ich werde die Nacht über bei

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