Karambolage
er sich sehr darum gekümmert hätte. Sein Herz wurde schwächer, seine Beine machten nicht mehr so mit, wie er wollte, sein Blut war schlecht. Vor einigen Jahren hatte das ihm, dem kleinen Druckereiarbeiter, die Pension gebracht. Aber das hatte seine Lage nur verschlimmert, denn er hatte schnell aufgehört, irgendwo nach einem Sinn seines zu Ende gehenden Lebens zu suchen. Die Wohnung, in der er zusammen mit seinem Sohn Eduard hauste, war zu einem bereitwillig angenommenen Gefängnis geworden, seine wichtigste Aussicht die aus dem Wohnzimmerfenster – oft eintönig, aber doch nicht immer vorhersehbar.
So wie an diesem Abend, bei Wind, Wetter und stromloser Finsternis. Er war sich bewusst, dass er wahrscheinlich niemals mehr in seinem Leben etwas Derartiges würde mit anschauen dürfen. Es war ein finaler Augenblick, ein Höhepunkt, der ihn zunächst so ergriff, dass er wie gelähmt hinter dem Vorhang erstarrte und nicht wusste, was er weiter tun sollte. Die Polizei rufen? Die Rettung? Als er wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, kam bereits das erste Auto mit Blaulicht angefahren, und er konnte sich wieder auf seine Rolle als Zuschauer verlegen. Der Fahrer des Unglückswagens musste den Hergang der Sache ja erkannt haben …
Als es an seiner Tür läutete, wusste er dennoch: Das waren sie. Jetzt waren sie hier, die Polizisten, um ihn zu fragen, was er denn von seinem Fenster aus gesehen hätte. Langsam, begleitet von dem schweren Atem, der ihn schon nach wenigen Schritten behinderte, ging er, um zu öffnen.
»Oberinspektor Juricek, Kriminalpolizei. Dürfen wir kurz hereinkommen?«
»Bitte sehr, meine Herren. Ich habe Sie bereits erwartet.«
Zuerst hatte Seidl nur den großen Mann mit dem breitkrempigen Hut und der Dienstmarke wahrgenommen, jetzt bemerkte er auch Leopold. »Servus Erwin. Ich habe dich hinter dem Fenster stehen sehen«, sagte der nur kurz. »Da habe ich gewusst, dass du uns helfen kannst. Beantworte dem Herrn Oberinspektor bitte alle Fragen gewissenhaft und genau, dann bist du ihn bald wieder los.«
»Wir sind der Meinung, dass Sie den Unfall gesehen haben«, sagte Juricek trocken.
»Wie? Ja … ja natürlich«, erwiderte Seidl ein wenig aufgeregt. Dabei ließ er sich in einen weichen Lehnsessel fallen, trank hastig von einem Glas Rotwein, das auf dem kleinen Couchtisch stand, und zündete sich eine Zigarette an.
Juricek und Leopold nahmen auf dem Sofa Platz. »Wir sind uns über den Hergang noch nicht ganz im Klaren. Können Sie uns etwas darüber erzählen?«, fragte Juricek weiter.
Seidl zögerte. Er fuhr sich mit der einen Hand durch sein strähniges, glatt zurückgekämmtes Haar, die andere hielt die Zigarette und zitterte merklich. »Wissen Sie, es war dunkel, stockfinstere Nacht, und der Regen kam herunter wie ein Wasserfall«, sagte er. »Ich konnte also das meiste nur bruchstückhaft erkennen. Zuerst kam der Mann aus dem Kaffeehaus und bewegte sich in Richtung Bahnhof. Er ging nicht mehr sehr sicher und blieb dann unter dem Baum hier gegenüber stehen. Er war sichtlich überrascht von der Schwere des Regens. Ich glaube fast, er hat überlegt, ob er nicht umkehren und ins ›Heller‹ zurückgehen soll.« Seidl sog an seiner Zigarette, als hätte er wochenlang kein Nikotin mehr bekommen. Nervös hielt er sie mit seinem angebräunten Zeigefinger fest. Aber trotz seiner inneren Unruhe kamen seine Worte klar und deutlich.
»Plötzlich kam aus dem Hauseingang hinter ihm diese Gestalt, die ich zunächst auch nicht bemerkt hatte«, fuhr er fort. »Sie war in eine dunkle Regenjacke gehüllt und schien etwas von ihm zu wollen. Er sagte etwas, aber ich konnte nicht verstehen was, ich hatte das Fenster geschlossen. Daraufhin packte ihn die Gestalt mit beiden Händen und schüttelte ihn. Als das Auto kam, versetzte sie ihm einen kräftigen Stoß und rannte davon. Den Rest wissen Sie ja.«
»Haben Sie erkannt, ob es ein Mann oder eine Frau war?«, fragte Juricek.
Seidl schüttelte den Kopf.
»Ist Ihnen sonst irgendetwas aufgefallen? Können Sie etwa ungefähr sagen, wie groß die Gestalt war? Größer oder kleiner als das Opfer?«
»Größer glaube ich nicht, aber ich bin mir nicht sicher. Ich konnte ja nur Umrisse erkennen. Außerdem war mein Fenster zu und voller Regentropfen. Die Gestalt trug eine dunkle Jacke mit Kapuze, mehr weiß ich nicht.«
»Aber Sie sind sich sicher, dass der Tote vor das Auto gestoßen wurde?«
Seidl nickte.
»Warum haben Sie dann nicht gleich die
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