Karambolage
Neuling baute eine Stellung für Korber auf. »Spielen Sie den weißen Ball jetzt ohne Effet an. Er kommt dann genau wieder hierher zurück, während Ihr Ball den roten trifft. Ein klassischer Stellungsstoß.«
Korber setzte zum Stoß an. »Keinen Effet, habe ich gesagt«, krächzte Neuling hinter ihm. Korber spürte die stechenden, hinter zwei Neonröhren verborgenen Augen in seinem Genick und den heißen Atem seines Lehrers auf seiner Wange. Er begann zu schwitzen. »Mittelstoß«, hämmerte Neuling in seinen Rücken. »Los, jetzt!«
Korbers Stoß fiel erbärmlich aus. Der weiße Ball, der zurückkommen hätte sollen, blieb kraftlos am anderen Ende des Brettes liegen.
»Wie ich es mir gedacht habe«, presste Neuling hervor. »Das war nichts, Herr Korber, gar nichts. Sie haben jetzt zwar den Punkt gemacht, aber die Bälle gnadenlos auf das gesamte Brett verteilt. Sie haben viel zu hastig gestoßen. Was ist denn los mit Ihnen? Zuerst waren Sie weitaus lockerer.«
Korber wollte etwas zu seiner Entschuldigung anführen, doch Neuling ließ sich nicht unterbrechen. »Keine Angst, wir werden Ihnen das schon abgewöhnen. Es sind eben die Schwächen eines reinen Kaffeehausspielers. Ihnen fehlen die Stärken des Klubspielers: Sicherheit, Konstanz, Ökonomie. Das werden wir Ihnen hier noch beibringen. Eigenwillige Ideen vergessen Sie vorerst bitte. So, und jetzt das Ganze noch einmal.«
Wieder setzte Korber an, wieder fixierte Neuling jede seiner Bewegungen. »Ganz ruhig! Mittelstoß! Kein Effet!«, hörte er die schnarrende Stimme hinter sich. Er spürte eine leichte Schwäche in seiner rechten Hand, gerade als er sich daranmachte, den Stoß auszuführen.
»Warum zögern Sie?«, kam’s mit verhaltener Freundlichkeit.
»Offensichtlich denke ich zu viel nach, weil ich keinen Fehler machen will.«
»Probieren geht über Studieren.«
Korbers Ball setzte sich in Bewegung. Immerhin bekam man jetzt eine Ahnung, wie der Stoß gedacht war. »Schon besser«, schnarrte Neuling anerkennend.
Korber kippte hastig die Hälfte seines Glases hinunter. Warum war er bloß hier? Es gab 100 andere Möglichkeiten, einen angenehmen Abend zu verbringen. Allein mit Neuling fühlte er sich wie einer der verschwitzten Schüler aus seinen Klassen vor einer Prüfung. Er musste das Gespräch auf Fellner lenken, um vielleicht doch noch etwas Wichtiges herauszubekommen.
»Hat Fellner sich eigentlich beim Spielen an Regeln gehalten?«, fragte er. »Soviel ich weiß, hat er doch meistens improvisiert und sehr unorthodox gespielt. Aber der Erfolg hat ihm recht gegeben.«
»Fellner hatte eine schöpferische Begabung«, sagte Neuling, während er die Bälle noch einmal in derselben Position aufstellte. »Aber auch die kann man nur zur Entfaltung bringen, wenn man durch die harte Schule der Grundlagen gegangen ist. Fellner war eben ein hervorragender Billardspieler mit einer begnadeten Fantasie. Wenn nur sein Charakter so einwandfrei gewesen wäre wie seine Spielkunst.«
»Sein Charakter?«, setzte Korber nach. Aber entweder hörte Neuling wirklich schlecht, oder er stellte sich jetzt taub. »Ja, natürlich noch einmal«, forderte er Korber auf. »Sie dürfen sich an Fellner kein Beispiel nehmen. Wir sind bei der Grundlagenschule. Das Tempo stimmt noch nicht. Also: Konzentration auf den weißen Ball. Genau anspielen. Ohne Effet! Sachte, aber nicht zu sachte.«
In seiner Verzweiflung stieß Korber jetzt ohne Überlegen wild drauflos, es gelang ihm dabei aber ein ausnehmend guter Stoß. Alle Bälle fanden sich in einer Ecke zusammen. »Bravo«, hörte er Neulings Lob in seinem Rücken. »Ausgezeichnet!«
Doch ehe Neuling etwas über das weitere Zusammenhalten der Bälle dozieren konnte, blickte ihm Korber in die neonröhrenverspiegelten Brillengläser und sagte lauter, als er ursprünglich vorgehabt hatte: »Sie mochten Fellner also nicht.«
»Es ist kein Geheimnis«, sagte Neuling ungerührt. »Kein Charakter, keine Disziplin. Fellner hat die Prinzipien dieses Klubs aufgeweicht und letztendlich zerstört. Floridsdorf oder Alt-Floridsdorf kümmerten ihn einen Dreck. Deswegen – seien Sie mir nicht böse – stehe ich auf dem Standpunkt, dass man die Gesinnung neuer Mitglieder diesbezüglich durchaus prüfen sollte. Er kam ja von auswärts, genauso wie dieser Mitterhofer. Wir hätten sie einfach nicht aufnehmen sollen. Fellner wollte Spaß haben, und leider hat die Spaßgesellschaft dann auch gesiegt und diesen Verein quasi übernommen. Wir sind
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