Karambolage
schon und ging auf die Mitternacht zu. Obwohl er einiges Nützliche erfahren hatte, bezweifelte Korber die Wichtigkeit seiner Mission. Klatsch und Tratsch, ein paar Feindseligkeiten, der übliche Neid und eine kleine Portion Vorstadterotik: Wie sein Freund Leopold damit einen Mordfall auflösen wollte, blieb ihm schleierhaft. Am ehesten schien ihm noch Neuling verdächtig, der einen mit seinen schwachen, hervorquellenden Augen durchbohren konnte und immer die unangenehme körperliche Nähe zu einem suchte. Aber war das nicht nur sein subjektiver Eindruck nach der qualvollen Lehrstunde?
Plötzlich hörte er ein seltsames Klicken an der äußeren Tür. Noch während ihn eine furchtbare Ahnung befiel und er eilends hinausstürzte, wurde es um Korber herum finster. Er wusste, dass das diesmal kein Stromausfall war. »Herr Neuling«, schrie er verzweifelt. »Herr Neuling, so warten Sie doch! Ich bin noch da!«
Er tastete nach der Schnalle und zog an, aber vergeblich. Die Türe war versperrt und Neuling offenbar seines Weges gegangen.
Mit einem lauten »Scheiße!« ließ sich Korber auf den Boden des WC-Vorraumes fallen. Das hatte er nun davon, dass er einem guten Freund, dessen Fantasie durch jeden Mordfall in seiner Umgebung auf seltsame Weise angeregt wurde, einen Dienst hatte erweisen wollen. Er war in der Toilette des Billardklubs ›Alt-Floridsdorf‹ eingeschlossen.
War er bloß von dem schwerhörigen und zweifellos schon etwas verkalkten Neuling vergessen worden, oder hatte er sich irgendwie verraten? Hatte er zu viele zu intime Fragen gestellt? Hatte Neuling Verdacht geschöpft und dies geschickt hinter der Fassade eines alternden Billardspielers verborgen? War Neuling tiefer in diesen Mordfall verwickelt, als man annehmen wollte? Fragen über Fragen, aber wie man die Sache auch betrachtete, es sah nicht gut für Korber aus.
In einer ersten irrationalen Reaktion stand er wieder auf, klopfte laut an die Tür und rief: »Aufmachen!« Klar, dass niemand ihn hörte und er neben der Dunkelheit nun auch die unheimliche Stille wahrnahm, die ihn umgab. Alles in ihm sträubte sich dagegen, die Nacht an diesem unwirtlichen Ort zu verbringen. Er konnte hier zwar seinen Bedürfnissen freien Lauf lassen, sobald er welche verspürte, er würde dank des kleinen Handwaschbeckens mit dazugehörigem Wasserhahn auch keinen Durst leiden müssen, aber was nutzte das? Finster war’s, es roch nach Desinfektion und Urin, und der Boden war steinhart.
Sollte er etwa am Morgen von diesem Häusl aus direkt in die Schule gehen wie ein obdachloser Sandler [16] , der mit dem ersten Tageslicht von der Latrine hinaustritt ins Freie, um sich ein paar Cent für Bier oder Schnaps zusammenzuschnorren? Er würde den Mief mit sich ins Schulhaus tragen, in alle Klassen, ins Lehrerzimmer, in Direktor Marksteiners Kanzlei und, schlimmer noch, bis in Maria Hinterleitners zierliche Nase. Er würde … nein, das war alles nicht auszudenken!
Wie benommen hämmerte er noch einmal an die Tür, nur um resigniert das erwartete Ergebnis zur Kenntnis zu nehmen: Alles blieb ruhig. Doch halt – zwei Herzen schlugen ja in seiner Brust, nämlich sein ursprüngliches organisches, nur mehr schwach hoffendes, und das in seiner linken Brusttasche leise vor sich hinvibrierende Handy. Korber war also doch nicht ganz von der Außenwelt abgeschnitten. Er konnte Leopold, der ja eigentlich schuld an seiner Misere war, anrufen, ihm einmal gehörig die Leviten lesen, was er sich denn bei der ganzen Sache gedacht hatte, und dann veranlassen, Hilfe zu holen. Leopold würde schon etwas einfallen. Es musste ihm einfach etwas einfallen.
Liebevoll, beinahe zärtlich, holte Korber sein Handy heraus. Er ertappte sich dabei, dass er es kurz streichelte, bevor er es einschaltete. Doch dann versank er endgültig in Resignation. Die Toilette war doch ein allzu abgeschiedenes Refugium. Er konnte tun, was er wollte, er bekam keinen Empfang. Er tastete sich an der Wand entlang, versuchte es an allen möglichen Ecken und Enden bis hin zum Damenklo, aber ohne Erfolg. Da war nichts zu machen. Er musste sich endgültig damit abfinden, bis zum Morgen unfreiwillig in dieser Klause zu verweilen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich noch einmal zu erleichtern, aus seiner Strickweste ein Bündel zu machen und sich die angenehmste Stelle zum Schlafen zu suchen.
Korber litt bereits unter den ersten elenden Träumen und Heimsuchungen, doch erneut nahm das Schicksal eine überraschende
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