Karambolage
Heller«, antwortete Olga Fellner betont leise. »Das kann man wohl sagen. Die letzten beiden Nächte habe ich kein Auge zugetan. Und untertags? Nichts als Anrufe, Beileidwünsche, Kondolationen. Dann die Befragungen durch die Polizei, natürlich auch bei Verwandten und Freunden, die einen selbst wieder anrufen und alles erzählen. Ein ständiger Kreislauf, der mich die letzten Nerven kostet.«
»Dann ist es ja gut, dass Sie den Weg zu uns gefunden haben, um sich ein wenig zu entspannen.«
»Ja, zu Hause halte ich es fast nicht mehr aus. Ist das alles notwendig, frage ich Sie? Muss man fortwährend Rede und Antwort stehen, wo man doch selbst die Leidtragende ist? Chéri …«
»Chéri?«
Olga Fellner errötete leicht und senkte ihren Blick. »Das ist Herr Lacroix«, sagte sie. »Ich nenne ihn so, er ist ein sehr guter Freund. Chéri hat mir gesagt, dass Egon Sykora als Täter so gut wie feststeht. Weshalb dann diese Verhöre?«
Wie zufällig streifte Leopold, der sich jetzt auffallend für diesen Teil des Kaffeehauses interessierte, am Tisch vorbei. Dafür erntete er einen tadelnden Blick von Frau Heller, die wartete, bis er wieder weg war, und dann sagte: »Vielleicht war er es eben doch nicht.«
»Er war es, dessen können Sie sicher sein.« Genüsslich schlürfte Olga Fellner von ihrer Tasse. Dabei nahmen ihre Gesichtszüge langsam wieder jene Form von Stolz an, den man bei ihr kannte. »Mein Mann und er konnten sich seit Jahren nicht mehr leiden. Sie waren erbitterte Feinde. Kein Wort haben sie miteinander geredet.«
»Aber das war doch eher eine sportliche Rivalität«, warf Frau Heller ein. »Deswegen wird man sich nicht gleich umbringen.«
»Sie tun ja geradezu, als wollten Sie Sykora verteidigen. Weshalb eigentlich? Er ist ein impertinenter Mensch, jähzornig, aufbrausend, gemeingefährlich. Sie haben ja gesehen, wie er auf meinen Mann losgegangen ist.«
»Das wäre ich auch«, meldete sich Leopold vom Nebentisch, den er langsam mit einem feuchten Tuch abwischte. »Ihr Mann hat Sykora ganz schön provoziert. Aber der Mord ist viel später passiert.«
»Mischen Sie sich nicht ein«, zischte Olga. »Das geht Sie nichts an.«
Frau Heller versuchte, sie zu beruhigen. »Sie können sich vorstellen, was das für eine Aufregung war«, sagte sie. »Das Lokal war voller Leute. Ich musste für die Polizei eine Liste erstellen, auf der alle verdächtigen Personen verzeichnet sind. Sie ist ein wichtiges Beweismittel, das uns zum wahren Täter führen wird.«
Olga Fellner schüttelte den Kopf. »Was auch immer Sie für die Polizei getan haben mögen, meine Liebe: Sykora ist der wahre Täter. Er ist verhaftet und wird seine Tat sicher bald gestehen.«
Jetzt fiel Frau Heller wieder ein, was sie soeben von dem unsympathischen Kerl an der Theke zu hören vermeint hatte. »Aber er ist nicht mehr verhaftet. Sie haben ihn wieder freigelassen«, sagte sie.
»Das ist doch nicht die Möglichkeit«, zischte Olga. »Sie sind sich sicher? Nun, es wäre nicht das erste Mal, dass ein Verbrecher aufgrund eines Justizirrtums freikommt.« Sie trank ihren Kaffee aus und blickte nachdenklich in ihre Tasse, so als könne sie aus dem zurückgebliebenen Sud ablesen, wer ihren Mann auf dem Gewissen hatte. »Wenn wir nur einen Zeugen hätten, der alles gesehen hat«, seufzte sie dann.
»Einen gibt es«, rutschte es Frau Heller heraus. »Aber es war so dunkel, dass er, glaube ich, auch nichts gesehen hat.«
Olga Fellner horchte auf. »Warum haben Sie mir das nicht gleich gesagt? Wer ist das denn?«, fragte sie neugierig.
Frau Heller zögerte kurz, aber ihr Mitteilungsbedürfnis siegte. »Ein gewisser Erwin Seidl. Im Haus da drüben wohnt er. Er hat aus dem Fenster geschaut«, sagte sie.
»Seidl … Seidl … Doch nicht etwa der Seidl mit dem behämmerten Sohn, der stottert?«
»Genau derjenige.«
»Das sind ja gute Neuigkeiten, meine Liebe. Also, irgendein Detail muss er doch gesehen haben, das Sykora entlarvt. Wahrscheinlich war die Polizei nur zu dumm, ihm die richtigen Fragen zu stellen. Das muss ich gleich Chéri erzählen. Chéri wird schon etwas einfallen.«
Olga begann nun, in ihrer Tasche zu kramen und ihr Handy zu suchen. Sie wirkte gar nicht mehr traurig und brav, sondern aufgekratzt und tatendurstig. Leopold schaute ihr interessiert dabei zu und fragte: »Haben die Dame noch einen Wunsch?«
Olga blickte irritiert auf. Frau Heller schüttelte den Kopf. »Ich denke, in anderen Teilen des Lokals werden Sie auch
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