Karambolage
tupfte sein Gesicht mit einem Taschentuch ab. »Und dieser Seidl hat Sykora erkannt, da habe ich gar keinen Zweifel. Wahrscheinlich hat es nicht einmal eine ordentliche Gegenüberstellung gegeben. Wir werden verhört und verdächtigt, aber so etwas darf frei herumlaufen. Das ist ein Skandal. Komm, Chéri, wie fühlst du dich?«
»Mal, très mal«, stöhnte Lacroix. »Mit einem Wort: beschissen.« Auf Olga gestützt, verließ er das Lokal.
Leopold schaute den beiden nach. Was würden sie jetzt anfangen? Zur Polizei gehen? Oder doch zu Erwin Seidl? Zuzutrauen war ihnen alles. Ein gutes Gefühl hatte er jedenfalls nicht. Er war nur froh, dass sie draußen waren. Das ewige ›Chéri‹ machte ihn ganz dumm im Kopf.
Im Lokal kehrte angenehme Ruhe ein. Frau Heller hatte alle Hände voll zu tun, um sich bei den verbleibenden Gästen zu entschuldigen und ihnen die Situation zu erklären. Aber bald ging wieder alles seinen gewohnten Gang.
Vorne, auf der Theke, stand ein leeres Bierglas. Freund Mundgeruch war gegangen, kriminalistisch ausgedrückt: ohne Spuren zu hinterlassen – keine Geldscheine, keine Münzen. Er war einfach zur Türe hinaus und würde nun wohl woanders seine Neuigkeiten verbreiten, den Rotz aufziehen und seinen Thekennachbarn den Hauch des Todes ins Gesicht blasen, bis er nach einiger Zeit auch dort wieder auf dieselbe Art verschwinden würde, still und heimlich. Männer seines Schlages hielt es nirgendwo lange. Sie hatten eine unruhige Existenz.
Eine innere Eingebung sagte Leopold, dass er diesen Menschen so schnell nicht wieder zu Gesicht bekommen würde.
*
Wie lange das Café Heller an einem Samstag geöffnet hatte, war unterschiedlich – manchmal bis 18 Uhr, manchmal etwas länger, je nach dem Sitzfleisch der verbliebenen Gäste. Die meisten gingen schon früher, nach der Jause. Man machte es sich daheim vor dem Fernseher gemütlich, ging vielleicht noch ein wenig aus, besuchte allenfalls Freunde oder Bekannte. Hie und da wollte eine Gruppe jugendlicher Gäste hier darauf warten, dass die Kinovorstellung anfing oder die ersten Diskotheken aufsperrten, aber das geschah immer seltener. Es gab modernere Lokale mit Musik im Hintergrund, dort zog es sie hin, die Kids. Wer noch hier im ›Heller‹ saß, war da, weil er nichts Besseres zu tun hatte.
An diesem Samstag war es nicht anders. Leopold leerte die Aschenbecher, sah zu, dass für den morgigen Ruhetag alles seine richtige Ordnung hatte, und wartete auf die Sperrstunde. Die Woche war ereignisreich und anstrengend gewesen. Außerdem war es ihm ernst mit seinem sonntäglichen Besuch am Stubenbergsee. Da musste er fit sein.
Am Haustisch spielte Herr Heller eine Partie Schach gegen Robert Sedlacek. Beide saßen schweigend da, den Kopf auf die Hände gestützt, und starrten auf das Brett hinunter. Sedlacek war nur ein mittelmäßiger Schachspieler, der zwar in der Theorie sehr bewandert war, gegen Herrn Heller aber beinahe immer den Kürzeren zog. Dennoch fand er sich regelmäßig auf ein Spiel ein. Er liebte diese Augenblicke der angespannten Ruhe. Man saß einem anderen Menschen gegenüber und war nicht gezwungen, mit ihm zu sprechen. Man musste nicht krampfhaft nach Worten suchen und verstand sich dennoch. Die Worte las man aus dem Gesicht des anderen ab, wenn er die Position der Steine auf dem Brett betrachtete oder einen Zug ausführte. Ein Zug selbst war Frage, Antwort, Angebot oder Ablehnung. Schach war Konversation auf höchstem geistigem Niveau.
Leopold kannte Sedlacek kaum anders als in dieser Stellung: Kinn auf Handfläche, leicht gebückter Oberkörper, manchmal sich nervös mit der Hand durchs Haar fahrend. Wie war der Mensch sonst? Wie stand er auf, wie legte er sich schlafen? Wie machte er seine Morgentoilette? Was frühstückte er? Nahm er etwas zu sich, während er in den Fernseher guckte? Leopold konnte sich Sedlacek nicht anders vorstellen als in dieser gebückten Denkerhaltung. Er wusste eigentlich nichts von ihm. Und so wie mit Sedlacek ging es ihm mit vielen anderen, die das ›Heller‹ frequentierten. Sie bestanden für ihn nur aus dem, was sie zeigten, wenn sie da waren. Man kannte alle Arten, wie sie ihren Kaffee tranken, in der Zeitung umblätterten, etwas bestellten. Aber man kannte die Menschen nicht. Darum war man so perplex, wenn ein Mord geschah, und auf einmal sollte es einer von denen sein, die täglich kamen und die man zu kennen glaubte.
»Schach«, sagte Herr Heller, »und Matt.«
»Noch eine
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