Karas Reich
zeigte ein Porträt.
Es zeigte sie.
Kara, die Königin!
Schweigen. Bedrückend, lastend. Nur das leise Fauchen der Flamme war zu hören.
Sie überlegte. Gedanken jagten durch ihren Kopf, die sich auch mit der Vergangenheit beschäftigten. Dieses Bild mußte zu der Zeit gemalt worden sein, als es den Kontinent Atlantis noch gab. Natürlich war eine gewaltige Zeitspanne vergangen, doch Kara sah um keinen Deut älter aus als auf dem Bild.
Ein leichtes Schwindelgefühl hatte sie überkommen. Endlich schaffte sie es, näher an das Gemälde heranzutreten, weil sie noch mehr Einzelheiten erkennen wollte.
Wer sie gemalt hatte, mußte ein Meister seines Fachs gewesen sein.
Das schmale Gesicht, die dunklen Brauen, die ebenfalls dunklen, geheimnisvollen Augen, der Mund mit den vollen Lippen, darüber die gerade Nase, das leichte Rot an den Wangen, ein schmales Kinn, der schmale Hals. Und all dies war von der dunklen Haarflut umrahmt, die aussah wie eine lockere Welle und über der Stirnmitte den Ansatz eines Scheitels zeigte. Ihr Blick glitt tiefer. Kara sah, daß diese Person auf dem Bild einen weißen Mantel trug, der allerdings nur in Höhe der Schultern normal zu sehen war und später verlief.
Der Hintergrund war in einem fahlen Weiß gezeichnet. Man konnte ihn als Schnee ansehen, der in großen Flecken irgendeinen Hang bedeckte.
Etwas stimmte mit dem Original nicht überein. Zuerst hatte es Kara nicht gesehen, weil sie das Gesicht einfach zu sehr angezogen hatte. Nun, beim zweiten Hinsehen, konzentrierte sie sich auf Einzelheiten. Unter dem langen Haar schaute goldener Schmuck hervor. Er gehörte zu sehr langen Ohrringen, die in großen, goldenen Tropfen ausliefen. Diese wiederum waren mit grünen Steinen oder Perlen verziert. Das gleiche Grün entdeckte sie auf dem Halsschmuck, der die Form eines Ankers hatte und sicherlich schwer war.
Sie atmete tief ein und aus.
Noch hatte sie ihre Überraschung nicht überwunden, als sie bereits begann, sich mit diesem Gemälde abzufinden. Kara wußte auch nicht, wer es gemalt hatte, doch Kruti und Gallas hatten es in Ehren gehalten und zudem noch versteckt. Ein Zeichen, daß sie Kara als ihre Königin die ganze Zeit über verehrt hatten.
Das Bild der Königin, ihr Bild…
Demnach war sie es auch, die über ein Reich herrschte, in dem die Toten auf einem kleinen Wagen durch die Straßen gekarrt wurden. Und das genau paßte nicht zu ihr, nicht zu ihrer Herrschaft. Das hätte sie als Königin nie zugelassen. Es mußte also noch etwas anderes geben, das im Hintergrund lauerte.
Etwas sehr Böses, ein mächtiger Feind, denn dieses Bild war versteckt worden.
Sie drehte den Kopf und schaute Gallas an, der nicht wußte, wie er sich verhalten sollte. Er gab sich verlegen. Er lächelte und bewegte zuckend seine Augen.
»Warum?« fragte Kara nur.
»Das bist du, Königin.«
»Ja, das sehe ich. Aber…«
»Du kannst dich nicht erinnern?«
»Nein, das kann ich nicht.«
Gallas hob die kräftigen Schultern. »Wir haben dich nie gesehen, nur der Maler sah dich. Er hat dieses Bild gebracht und uns erklärt, daß du unsere Königin bist und die Herrschaft an dich reißen wirst, wenn die Zeit gekommen ist. Nun bist du erschienen. Die Zeit ist reif. Du wirst uns helfen.«
Kara schüttelte den Kopf. Es war verrückt, es war unmöglich, und das mußte sie ihnen begreiflich machen. Sie mußte ihnen sagen, daß es Atlantis nicht mehr gab, daß der Kontinent im Meer versunken war und sie aus der Zukunft wieder hergereist war. Soweit sie sich erinnern konnte, hatte sie als Erbin des großen Delios nie ein Reich regiert. So sah es aus, und sie konnte sich auch nicht vorstellen, es jetzt zu übernehmen. Sie wollte keine Regentschaft, aber wie sagte sie das den Vertretern ihres Volkes?
Volkes…?
Abermals mußte sie an ihre Träume denken und daran, was ihr gezeigt worden war.
Berge, Täler, Wälder, gewaltige Ebenen, ein großer, weiter Himmel, so etwas wie ein schönes Land, das stand fest.
Aber nun…?
Ja, die Menschen. Sie hatte die Menschen gesehen und die Angst bemerkt, mit der sie sich durch das Land bewegten. Auf ihren Zügen war sie wie eingegossen gewesen. Die Menschen hatten ausgesehen, als wären sie von etwas Unheimlichem verfolgt worden, das irgendwann brutal zuschlagen würde.
Es gab einen Feind!
Sie selbst wußte nichts davon, doch neben ihr stand Gallas, der konnte ihr einiges sagen.
Zudem gab es da noch das Problem der Toten…
Kara nickte, aber sie war keineswegs
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