Kardinal vor La Rochelle
Hungersnot
ausbrach, konnte man dort Frauen sehen, die keine zwei Schritt von unseren Vorposten nach eßbaren Gräsern suchten. Man ließ
sie in Ruhe, der König hatte verboten, auf sie zu schießen.
Wenn es Nacht wurde, boten sich Rochelaiserinnen, auch andere natürlich, den Soldaten an und verkauften sich für einen Bissen
Brot, während ihre Kameraden mit geladener Muskete Wache hielten, falls sich hinter diesen Besuchen eine Kriegslist verbergen
sollte. Weder von Rochelaiser Seite noch von der königlichen vermochte man diese Praktiken zu unterbinden. Der Hunger war
zu gebieterisch, wenn auch auf beiden Seiten nicht derselben Art. Außerdem waren diese Vorposten ausgezeichnete Soldaten,
alle stellten sich freiwillig den Gefahren der Nachtwache, und es wäre sehr unklug gewesen, auch nur einen einzigen zu hängen.
Hinter der endlos langen Umzingelung, die aus Gräben, aber auch aus Redouten, also viereckigen Schanzen, bestand, erstreckte
sich das Lager: eine Stadt auf Zeit, bunt zusammengewürfelt, wie es gerade kam, aus Steinhäusern, Holzbaracken, Zelten, und
ihre militärische Bewohnerschaft, die schließlich auf dreißigtausend Mann anwuchs, wurde nahezu verdoppelt durch Händler,
Bäcker, Maurer, Schmiede, Schuster, Marketenderinnen, Wäscherinnen und nicht wenige Bauern, die auf dem freien Feld zwischen
den Bauten ihre Rinder hielten und hüteten und sie gewinnbringend an die Fleischer verkauften. Durch dieses |30| Drunter und Drüber zog sich ein Netz hastig gepflasterter Wege, die aber meist verschlammt waren, denn im Oktober und November
regnet es in dieser Region Frankreichs fast ununterbrochen, oft in Begleitung wütender, kalter Winde vom Ozean.
Auf diesen Wegen herrschte ein dicht gedrängtes Hin und Her von Karren und Kutschen, von Reitern und Fußvolk, und ständig
gab es Streit, besonders an den Kreuzungen, wenn die einen die anderen überholen wollten, alles schimpfte, fluchte, knallte
mit den Peitschen. Von Aytré waren Nicolas und ich Seite an Seite im Trab aufgebrochen, doch das Gewühl, das auf den Landstraßen
genauso unentwirrbar war wie in Paris, zwang uns bald, hintereinander Schritt zu reiten.
Das Wetter war, wie gesagt, windig und unwirtlich, der Himmel hing finster und tief, und es fiel ein kalter Nieselregen. Mehr
als einmal sah ich abseits des Weges Pferdekadaver liegen, von deren süßlichem Gestank mir übel wurde; andere, die von den
Raben zum Skelett abgeweidet waren, stanken, Gott sei Dank, nicht mehr. An Raben gab es Unmengen, wie auch schon in der belagerten
Zitadelle Saint-Martin-de-Ré. Anscheinend hatten sich sämtliche Raben des Landes hier ein Stelldichein gegeben, angelockt
von der Aussicht auf reichliche, langwährende Beute. Auf dem Erdboden bewegten sie sich schwerfällig, aber so unverschämt
frech, daß sie kaum den Soldaten auswichen, die mit der Muskete über der Schulter zu ihren Posten marschierten.
Nach gut zwei Stunden erreichten wir, trotz unserer Capes durchfroren und regendurchweicht, das Dorf Coureille, das der Herzog
von Angoulême auf königlichen Befehl gleich zu Beginn der Umzingelung von La Rochelle besetzt hatte. Da wir auch das Kliff
von Chef de Baie besetzt hatten, beherrschten wir also von Anfang an zwei entscheidende Punkte im Norden wie im Süden der
Bucht von La Rochelle, so daß die Engländer, denen es allerdings an Forts und Truppen nicht mangelte, dort nicht landen konnten.
Nur leider konnten wir nicht verhindern, daß die englischen Schiffe in die weite Bucht und in den Hafen der Stadt einliefen,
weil wir, trotz aller dahingehenden Anstrengungen des Kardinals, noch keine starke Flotte hatten.
Es versteht sich also von selbst, daß unsere Landblockade der Stadt La Rochelle nicht viel anhaben konnte, solange diese weiterhin
übers Meer versorgt wurde. Daraus, Leser, entstand |31| die Idee, jenen berühmten Deich zu errichten, einen Deich durchs Meer vom Kliff vor Coureille bis zum Kliff von Chef de Baie,
der den feindlichen Schiffen die Einfahrt und den hugenottischen Schiffen die Ausfahrt verwehrte, so daß La Rochelle vollständig
eingeschlossen war. Aber von dieser gigantischen Unternehmung, die soviel Geld, Arbeit und Beharrlichkeit verlangte und der
so vielfaches Scheitern begegnen sollte, das aber schließlich doch zum Ziel führte, erzähle ich später.
In Coureille empfing uns Toiras in einem behaglichen kleinen Haus, das uns mit einem großen Kamin und einem
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