Kardinal vor La Rochelle
verloren.
Am Morgen des Tages, an dem ich die Mauern verlassen wollte, versuchte ich, das Haus des Bürgermeisters Guiton aufzusuchen,
um ihm meinen Entschluß mitzuteilen. Ich nahm zwei Gefreite mit, einen links, einen rechts, damit sie mich hielten, falls
ich umsinken würde. Es war ein Sonntag, und ich wunderte mich, keine Glocken zu hören, die zum Gottesdienst riefen. Der Grund
war: Die Glöckner hatten keine Kraft mehr zum Läuten.
Die Straßen lagen voller Leichen, Gott sei Dank stanken sie nicht, so entfleischt waren sie. Vor der Haustür des Bürgermeisters
sah ich einen Brandsatz, und zwei Schritt davon entfernt lag tot der Mann, der ihn hatte zünden wollen, das Feuerzeug hatte
er noch in der Hand.
Es erstaunte mich nicht groß. Guiton war inzwischen wegen seiner Halsstarrigkeit, nicht mit dem König zu verhandeln, ebenso
verhaßt und verpönt, wie er anfangs für seine Standhaftigkeit bewundert worden war, sich nicht zu unterwerfen. Mein Klopfen
klang so matt, daß meine Gefreiten noch einmal klopfen mußten. Endlich öffnete sich die Tür, und eine abgezehrte Bediente
mit bleichem Gesicht erschien. Der Bürgermeister, sagte sie, sei beim Gottesdienst ohnmächtig geworden, man habe ihn nach
Hause tragen müssen, er versuche zu Kräften zu kommen und wolle niemanden sehen.«
|337| »Sir Francis«, sagte ich, »darf ich fragen, wie es Euch an jenem Abend gelang, durch das Tasdon-Tor hinauszukommen?«
»Das schwerste dabei war, den Weg von der Garnison bis zu dem Tor zu gehen, und dann vom Tor bis zu dem französischen Graben.
Aber durch das Tor zu kommen, war eine Kleinigkeit. Ich sagte den Rochelaiser Wächtern, wer ich sei, daß Guiton darniederliege,
daß ich mit dem König verhandeln wolle. Sie öffneten mir ohne Widerspruch, die einzige Schwierigkeit für sie war, den großen
Schlüssel im Schloß zu drehen.«
Diese danteske Schilderung der letzten Tage von La Rochelle versetzte mich in eine Schwermut, die sich kaum sagen läßt. Eine
Sache ist es zu beschließen: »Diese Stadt rebelliert gegen ihren König, sie muß durch Aushungern bezwungen werden«, und eine
andere, wenigstens in der Vorstellung hinter die Mauern zu gehen und diese Hungersnot und ihre entsetzlichen Wirkungen mitzuerleben.
Dann empfindet man, wie das Wort »Der Mensch ist des Menschen Wolf« ungerecht gegen den Wolf ist.
Was Sir Francis anging, so hatte er sich mit diesen Erzählungen die grausigen Erlebnisse von der Seele reden müssen, glaube
ich. Als ich ihn verließ, dankte er mir jedenfalls für die Aufmerksamkeit und das Mitgefühl, mit denen ich ihm gelauscht hätte,
und setzte hinzu, er werde Brézolles niemals vergessen. Hier habe er durch mich, durch uns alle, wieder Freude am Leben gefunden
in der Welt der Farben und der Bewegung.
Weil ich meinte, daß er sein Säckel nun ausgeleert hätte, hieß ich Nicolas mein Schreibpult öffnen und nach meinem Diktat
niederschreiben, was mir Sir Francis erzählt hatte. Den Bericht sollte der Kardinal unverzüglich erhalten.
Nicolas geriet beim Aufschreiben dieser Schreckensgeschichte bald in höchste Erregung. Und als ich sah, daß ihm Tränen in
die Augen stiegen, sagte ich halb scherzend, halb ernst, wenn er weinen müsse, solle er es so einrichten, daß das Papier nicht
naß werde, der Kardinal sei so peinlich genau.
»Monseigneur«, sagte Nicolas, »ich würde mir nie erlauben, ohne Eure Zustimmung zu weinen.«
Ich stutzte über seine Bemerkung und fragte mich, ob sie nicht ziemlich doppeldeutig war. In diesem Moment begriff ich zum
erstenmal, daß der einem Höheren geschuldete Respekt durchaus Nuancen enthalten konnte, die alles andere als respektvoll |338| waren. Und Gott weiß, wie oft ich diese Einsicht noch bestätigt finden sollte.
Nicolas hatte kaum zu Ende geschrieben, als Hörner mir meldete, eine Karosse des Herrn Kardinals sei am Tor von Brézolles
vorgefahren. Bei Ansicht seines gemalten Wappens am Wagenschlag habe man sie eingelassen. Ein schmucker, junger Musketier
sei ausgestiegen und habe ihm gesagt, daß er Order habe, mich unverzüglich nach Schloß La Sauzaie zu Seiner Eminenz zu entführen.
Ich trug also Nicolas auf, sein Pferd zu satteln und mit meiner Accla am Zügel zu besagtem Schloß nachzukommen, weil ich nicht
sicher sein könne, daß die Kutsche mich zurückbrächte.
»Monseigneur«, sagte er, »ich auf meinem Ungarn soll Eure Accla am Zügel führen! Aber sie kann ihn nicht ausstehen
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