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Kardinal vor La Rochelle

Kardinal vor La Rochelle

Titel: Kardinal vor La Rochelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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ersonnen haben. Eine würde reichen, die schlimmste von allen: der Hunger, denn er erniedrigt das menschliche
     Wesen physisch und moralisch am grausamsten. Wissen Sie, was ich in La Rochelle mit eigenen Augen sah? Auf offener Straße,
     im Beisein anderer, stürzten sich zwei Frauen auf die Leiche einer Nachbarin, um sie aufzuessen. Und niemand hatte die Kraft,
     nicht einmal mehr den Antrieb, sie daran zu hindern.«
    Am nächsten Tag sprach Sir Francis wieder von seinen Soldaten – sie gingen ihm nicht aus dem Sinn, gerade weil er sich bei
     uns so gut umsorgt fühlte.
    »Heute nacht«, sagte er, »floh mich der Schlaf, und ich mußte an meine Soldaten denken. Wieder sah ich eine der Szenen vor
     mir, wie sie dann nur zu alltäglich wurden: Sie wissen, in einer Garnison ist jeden Morgen Appell. Beim Schall der Trompete
     müssen die Soldaten, gewaschen und bewaffnet, im Hof antreten, jeder an seinem Platz, müssen strammstehen und warten, bis
     der Anführer der Einheit die Reihen abgeschritten hat. Eines Morgens nun schleppte ich mich zum Appell, mich konnte nur noch
     ein einziger Gefreiter begleiten, der die Männer aufzurufen hatte. Der Trompeter, der sie geweckt hatte, war als einziger
     von fünfen noch imstande, sein Instrument zu blasen, wenn auch schwach und indem er Noten übersprang.
    |335| Ich weiß noch genau, daß ich an jenem Morgen sehr lange im Hof wartete, wankend, mit leerem Kopf, schweren Beinen. Endlich
     erschienen die Männer, torkelnd, kurzatmig, und weil sie ihre Musketen nicht mehr tragen konnten, schleiften sie sie übers
     Pflaster nach. Sie haben recht verstanden: Sie schleiften sie nach! Als die übliche Zeremonie endlich begann, hielt der Gefreite,
     der mit matter Stimme die Namen aufrief, jedesmal inne, wenn keine Antwort erfolgte, dann wiederholte er den Namen, und wenn
     es beim Schweigen blieb, setzte er ein
d
dahinter für dead. Als die Zeremonie endlich vorüber war, fragte ich ihn: ›Wie viele
d
?‹ Und er antwortete: ›Einunddreißig, Sir.‹
    Einunddreißig meiner Männer waren über Nacht gestorben! Seit einem Monat hatte sich die Zahl mit jedem Morgen erhöht. Auf
     die Idee,
d
statt
dead
zu schreiben, war der Gefreite gekommen, vielleicht der Kürze halber, vielleicht aber auch aus einer Art Scham.«
    »Beklagten sich die Soldaten sehr über ihr Los?«
    »Wenig. Zuerst, wenn sie von Buckie 1 sprachen, dem Urheber ihrer Leiden, war jedes zweite Wort ›verdammt!‹ und Schlimmeres. Aber nach seiner Ermordung nicht mehr. Er war beim Teufel
     in der Hölle, damit war die Sache für sie erledigt. Einmal belauschte ich ein Gespräch. Ich ging an einem Zaun entlang, hinter
     dem zwei Soldaten saßen und miteinander redeten. Der eine war dunkel-, der andere rothaarig, seinem Akzent nach ein Ire.
    ›Soll ich dir verraten, was ich mir wünsche?‹ sagte der Rothaarige.
    ›Das kannst du, verdammt noch mal, für dich behalten‹, sagte der Brünette.
    ›Ich verrat’s dir aber trotzdem‹, sagte der Rothaarige. ›Ich wünsche mir, daß die Franzosen angreifen. So wie es mit uns steht,
     nehmen sie die Stadt doch wie Butter.‹
    ›Idiot‹, sagte der Dunkle, ›da hättest du aber was von.‹
    ›Klar, hätt’ ich was davon, Idiot‹, sagte der Rote, ›wenig stens bekämen wir was zu fressen.‹
    Ich ging weiter, ohne etwas dazu zu sagen. Was hätte ich auch sagen sollen? Sicher waren solche Reden aus dem Mund eines Soldaten
     unduldbar, aber wozu in unserer Lage noch heucheln? |336| Daß die Franzosen angreifen und uns als ihre Gefangenen vom Hunger erlösen würden, das wünschten sich alle.«
    Sir Francis machte eine Pause.
    »Ich auch«, setzte er leise hinzu. »Und ich war viel zu schwach, um mich dessen zu schämen. Ich verzichtete auf den Morgenappell,
     weil er von den Männern eine Anstrengung erforderte, die über ihre Kräfte ging, zumal hinter fast der Hälfte der aufgerufenen
     Namen mittlerweile ein d stand. Ich befreite die Kanoniere davon, ihre Posten zu beziehen, weil sie die Kanonen ohnehin nicht
     mehr bewegen und nicht einmal mehr die Kugeln anheben konnten. Ich stellte die Wachdienste ein, Tag wie Nacht, denn nach zwei
     Stunden Postenstehen ließen sie ihre Musketen fallen und sackten zu Boden.
    Ich befehligte keine Truppen mehr, ich hatte das furchtbare Gefühl, einem Lazarett vorzustehen, und bekümmert fühlte ich mich
     ohne jeden Nutzen für die Stadt, die ich verteidigen sollte. Noch bevor das Leben mich verließ, hatte ich meine Bestimmung
    

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