Kardinal vor La Rochelle
nachblickte, sagte ich mir, daß es angesichts der Entfernung mindestens einen
Monat dauern würde, bis Lord Montagu mit dem Ölzweig zurückkehren konnte, der seinem und unserem Land das Ende dieses sinnlosen
Krieges verheißen würde. Und ein Monat war eine sehr lange Zeit für jene, die in La Rochelle dahinsiechten.
Auf der Stelle schickte ich Nicolas zum Domherrn Fogacer, um ihn zu bitten, er möge den englischen Oberst untersuchen kommen
und wenn nötig behandeln, uns aber auf jeden Fall sagen, wie man ihn ernähren müsse. Zwar hatten wir auf Brézolles schon Erfahrung
mit dem Problem, doch war unsere kleine Henriette bei ihrer Ankunft nicht derart erloschen und knochendürr gewesen wie der
arme Oberst, der schon an jenen äußersten Punkt des Hungerns und der Schwäche gelangt war, an dem man gar keinen Hunger mehr
verspürt. Ich weiß noch genau, wie sehr er sich überwinden mußte, um nach Fogacers Anweisungen an diesem ersten Tag auch nur
ein Ei, ein halbes Glas Milch und eine dünne Scheibe Brot zu sich zu nehmen.
|331| Erst nachdem er sich ein wenig erholt hatte, erkannte man, wie schön Sir Francis war. Mindestens sechs Fuß drei Daumen groß,
breit in den Schultern, in der Taille schmal, lange Beine, die Gesichtszüge ebenmäßig und harmonisch wie bei einer griechischen
Statue, helle Haut, tiefblaue Augen, dunkle Brauen, aber blonde lockige Haare, und obwohl er aussah, als ob er sich durch
nichts beeindrucken ließe, begegnete er jedermann freundlich und höflich, auch dem Gesinde.
Weil er in den ersten Tagen noch sehr schwach war, frühstückte ich mit ihm in einem kleinen Kabinett neben seinem Zimmer,
was uns beiden anfangs einiges Ungemach bereitete, weil ich meiner Gewohnheit gemäß bei dieser Mahlzeit kräftig zuzulangen
pflegte und er zu seiner Rettung auf schmale Kost gesetzt war.
Sobald Sir Francis zu Kräften kam, sagte er mir, daß er aus La Rochelle geflohen sei, weil er den französischen König um Audienz
bitten und in Berufung auf den Waffenstillstand anflehen wollte, die englischen Soldaten aus der Stadt herauszulassen.
»Sir Francis«, sagte ich, »erlauben Sie mir zuerst, Ihnen meine Bewunderung dafür auszusprechen, daß Sie sich ohne Rücksicht
auf Ihr Leben zu einem französischen Graben wagten, um die Befreiung Ihrer Soldaten zu erwirken. Sodann verzeihen Sie mir,
wenn ich Sie enttäusche, aber diese Bitte ist leider völlig vergeblich. Lord Montagu hat sie Seiner Majestät vor kurzem in
dringlichster Form vorgetragen und erhielt eine Abfuhr, weil der König Ihre Soldaten als Kriegsgefangene betrachtet, die er
erst freiläßt, wenn König Karl die Franzosen freiläßt, die in seine Hände gefallen sind.«
»Das mag gerecht sein«, sagte Sir Francis traurig, »aber es ist furchtbar! Meine Männer sterben den langsamen Hungertod. Ich
weiß nicht, Mylord«, fuhr er fort, »ob der Herr Kardinal jetzt noch Zuträger in La Rochelle hat. Ich glaube, wenn sie die
Stadt nicht verlassen haben, dann sind sie alle tot. Niemand außerhalb der Mauern kann sich ein auch nur annäherndes Bild
davon machen, was drinnen vorgeht. Es ist die Hölle, Mylord, und eine Hölle, die keiner vorhergesehen hat. Niemand war darauf
gefaßt, daß der Deich nicht nur den Stürmen standhalten, sondern auch ein unüberwindliches Hindernis für die englische Flotte
sein würde. Niemand hatte auch nur einen |332| Augenblick vermutet, daß die Belagerung so lange dauern und unsere Vorräte erschöpfen würde. Und vor allem hatte sich niemand
vorstellen können, daß jener Teil der Bucht hinter dem Deich, in dem es immer von Fischen, Krustentieren und Muscheln wimmelte,
eines Tages leergefischt sein würde, weil zu viele Menschen Tag und Nacht dort Nahrung suchten! Auf einmal war alles Leben
aus diesem Teil des Meeres verschwunden, so wie in La Rochelle alles Leben erlischt. Mylord«, fragte er mit bebender Stimme,
»wissen Sie, wie viele Einwohner La Rochelle zu Beginn der Belagerung hatte?«
»Achtundzwanzigtausend, soweit ich weiß«, sagte ich.
»Und was glauben Sie, wie viele es noch waren, als der Bürgermeister Guiton sie kürzlich zählen ließ?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Fünftausend!«
O mein Gott! dachte ich, so viele gestorben! So viele sinnlose Tode!
Als Sir Francis imstande war, Treppen zu steigen, nahm er seine Mahlzeiten in unserer Runde ein und wurde von allen verwöhnt
und bewundert. Wenn das Sprichwort wahr ist, daß »Schönheit
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