Kardinal vor La Rochelle
schwer beladenen Karren
herrührte, die zu Dutzenden polternd durch das Tasdon-Tor einfuhren – sicherlich auch durch die anderen Stadttore – und die
auf dem Pflaster von La Rochelle einen Höllenlärm verursachten. Hinzu kamen in Abständen ohrenbetäubende Trommelwirbel, gefolgt
von lautstarken Aufrufen an die Einwohner: Sie sollten aus ihren Häusern treten und kostenlose Nahrung in Empfang nehmen.
Von seiten des Königs war dies zweifellos eine sehr großmütige Geste, aber wie traurig war es, diese armen Rochelaiser zu
sehen, die wankend aus ihren Häusern kamen und gierig die Hände nach Brot ausstreckten, die sich um jede Gabe prügelten, wenn
auch mit so geringen Kräften, daß sie sich kaum weh tun konnten. Ihnen beizubringen, daß sie warten sollten, bis ein jeder
an die Reihe käme, und ihnen zu empfehlen, nur sehr maßvoll zu essen, wenn sie nicht sterben wollten, wäre ganz unmöglich
gewesen. Nicht viele waren der Vernunft zugänglich, und Dutzende dieser Unglücklichen gingen in den folgenden Tagen noch zugrunde,
weil sie sich den vom Hunger geschwächten Körper bis zum Sattwerden vollgeschlagen hatten.
***
»Monsieur, auf ein Wort, bitte!«
»Schöne Leserin, ich höre.«
»Man kann nicht behaupten, daß Sie sich in diesem Band |355| Ihrer Memoiren allzuoft an mich gewendet hätten. Immer nur an den Leser.«
»Madame, den Vorwurf habe ich aus Ihrem Munde schon gehört, glaube ich. Aber er ist ungerecht. Wenn ich ›Leser‹ sage, meine
ich selbstverständlich auch immer die ›Leserin‹, während ich mich mit der Anrede ›Schöne Leserin‹ stets nur an Sie persönlich
wende.«
»Ach, ich weiß, Monsieur, Sie sind um Worte nicht verlegen. Darf ich denn fragen, ob Sie Ihre Ernennungsurkunden zum Herzog
und Pair erhalten haben?«
»Danke, Madame, daß Sie sich darum sorgen. Die Antwort ist ja. Daß sie mir verspätet zugestellt wurden, lag aber nicht am
König, sondern an unserem Siegelbewahrer Marillac.«
»Mag er Sie nicht?«
»Er ist ein Orthodoxer, Madame, und die orthodoxe Partei ist gegen die Politik des Königs und des Kardinals, der ich diene.
Wäre beispielsweise Herr Marillac zur Zeit des La-Rochelle-Krieges der entscheidende Minister gewesen, hätte er dem König
wahrscheinlich empfohlen, die protestantische Religion in La Rochelle zu verbieten und die Pastoren aus der Stadt zu verjagen.«
»Hätte er Ludwig davon überzeugen können?«
»Nein, Madame. Bestimmt nicht. Ob Protestanten oder Katholiken – der König liebte seine Untertanen und wünschte sich sehr,
von ihnen geliebt zu werden. Als er am ersten November 1628 als Sieger in La Rochelle einzog, fielen die Notabeln auf die
Knie und riefen ›Erbarmen!‹ und ›Es lebe der König!‹ Da lüftete der König seinen Federhut und entbot ihnen ernst seinen Gruß.
Und dieser Gruß, Madame, gewann ihm alle Herzen. ›Es ist gar nicht‹, sagten die Rochelaiser untereinander, ›wie man uns weismachen
wollte, daß er uns alle umbringen würde. Statt dessen grüßt er uns!‹ Schon am Tag davor hatten sie ihm tiefen Dank gewußt,
daß er ihnen so schnell zu essen gab, und vor allem umsonst, denn höchstens die reichen Bürger von La Rochelle hatten noch
ein paar Taler im Beutel. Als sie Seine Majestät ganz anders als gefürchtet fanden, erblickten sie in ihm einen guten Engel,
der sie den Klauen des Todes entrissen hatte. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Am ersten November, zu Allerseelen, gab es auch
eine große Prozession in den Straßen von La Rochelle mit wer weiß wie vielen funkelnden Sternen, |356| Wachslichtern und Heiligenfiguren, für einen Hugenotten ebenso sträflich wie heidnische Götzenbilder. Aber alle Rochelaiser
standen an den Fenstern, um den König vorbeiziehen zu sehen, und erinnerten einander, daß er bei seinem Einzug in die Stadt
sie nicht nur gegrüßt, sondern bei ihrem erbärmlichen Anblick auch Tränen vergossen hatte.«
»Trotzdem, Monsieur, ließ Ludwig ihre Festungsmauern schleifen bis auf den Grund.«
»Was hatte das kleine Volk von diesen Mauern? Ein volles Jahr hatten sie die Leute eingesperrt und von jeglicher Nahrungszufuhr
abgeschnitten.«
»Ludwig nahm der Stadt aber ihre Freiheitsrechte und Privilegien, und die Rochelaiser mußten seitdem die Taille bezahlen.«
»Wer bezahlte denn die königliche Steuer, doch nur die wohlhabenden Bürger, die auf der Insel Ré ihre Weinfelder und auf der
Insel Oléron ihre Viehherden
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