Kardinal vor La Rochelle
zu, und ich wußte, er dachte wie ich, daß dieser Pottieux der schmierigste und schamloseste Doppelzüngler
der Schöpfung war und daß es kein Verlust gewesen wäre, ihn zu hängen, wenn er dem Kardinal nicht so nützliche Dienste geleistet
hätte.
Kaum hatte ich in Pont de Pierre den Namen des Schufts Charpentier ins Ohr gemurmelt, fand ich mich auch schon in dem kleinen
Kabinett wieder. Und sofort ließ der Kardinal mir |148| einen Lehnstuhl hereinbringen, weil er sicherlich meinte, es könnte mir für meine Mission bei der Herzogin von Rohan von Nutzen
sein, mit anzuhören, was Pottieux über die Zustände in La Rochelle zu berichten hatte. Wahrhaftig, der Schuft unterrichtete
mich trefflich, denn es fehlte ihm nicht an Schläue noch an Spürsinn, und was er zu berichten wußte, drückte er so klar, farbig
und gewandt aus, daß ich nur staunen konnte. Mein Staunen legte sich, als ich erfuhr, daß er einst ein glänzender Jesuitenzögling
gewesen war, der aber wegen eines Diebstahls der berühmten Lehranstalt verwiesen wurde. Deshalb konnte er seine Studien an
der Ecole de Médecine zu Montpellier nicht fortsetzen, wo er sich zum Feldscher und Chirurgus hatte ausbilden wollen. Es blieb
ihm also nichts anderes übrig als Barbier zu werden, wovon er sein Leben kärglich gefristet hätte, wenn er sich nicht, im
Krieg wie im Frieden, aufs Spitzeln verlegt hätte. Und dieses Metier nährte ihn bestens, weil er sehr gut zuhören und wiedergeben
konnte, was er erfahren und erlauscht hatte.
»Monseigneur«, begann er, »bevor ich zu dem komme, was gestern und heute morgen passiert ist, möchte ich mit Eurer Erlaubnis
die allgemeine Situation darstellen. Hinsichtlich der Nahrungsmittel herrscht bereits großer Mangel, der aber sehr unterschiedlich
verteilt ist. Man braucht nur durch die Straßen zu gehen, um festzustellen: Die Reicheren sehen noch einigermaßen gut genährt
aus, die Ärmeren sind abgemagert. Aber sogar sie vertrauen darauf, daß ihre Sache siegen wird. Fiebrig und inbrünstig warten
sie auf die Hilfe der englischen Flotte, mit deren Aufkreuzen im Bretonischen Pertuis für Mitte April gerechnet wird. Diese
Hoffnung ist jedoch Schwankungen unterworfen. Wie Ihr wißt, Monseigneur, konnte vorige Woche ein Postschiff bei Nacht in den
Hafen von La Rochelle gelangen, das Fässer mit Mehl, Erbsen und Speck an Bord hatte. Seine Ankunft wurde mit Freude und Jubel
gefeiert, mit großem Glockengeläute, großen Gebeten und exaltierten Predigten, die den Gläubigen versicherten, dies sei ein
untrügliches Zeichen, daß der Herr sie nicht verlassen werde. Und doch, welche dauerhafte Abhilfe kann die Fracht eines Postschiffes
einer Stadt mit achtundzwanzigtausend Einwohnern schon bringen?«
»Konntest du feststellen«, fragte der Kardinal, »wieviel englische Soldaten in der Garnison sind?«
»Sechshundert, Monseigneur, was für die Verteidigung der |149| Mauern ein Glück ist. Nicht, daß die Hugenotten keinen Mut im Leibe hätten, aber die Engländer sind weitaus erfahrener, disziplinierter
und kaltblütiger. Sie leben abgeschieden für sich, still, ohne zu verzweifeln, aber auch ohne viel zu hoffen. Dabei verlieren
sie freilich ihre kleinen Interessen nie aus den Augen. Plötzlich forderten sie eine Solderhöhung, und als der Stadtrat diese
ablehnte, drohten sie mit Verweigerung.«
»Verweigerung?« sagte Richelieu staunend, »mitten im Krieg? Und wie?«
»Keine Kampfbeteiligung und keine Wachrunden.«
»Was tat der Stadtrat?«
»Er verhandelte. Es war harter Schacher auf beiden Seiten. Am Schluß erklärten sich die Rochelaiser bereit, den Engländern
fünftausend Livres Vorschuß auf den Sold zu zahlen. Aber was nützt den Engländern diese Summe? Wenn die Belagerung andauert,
enden sie in der Grube wie alle anderen und pissen auch keine höheren Bögen.«
In Paris oder an der Seite des Königs im Louvre hätte der Kardinal über diesen groben Ausdruck die Stirn gerunzelt. Im Feldlager
jedoch, das er, mit Degen und Harnisch gewappnet, ein- bis zweimal am Tag visitierte, ließ er den unverblümten Reden, die
er hörte, freieren Lauf und schritt nur gegen Gotteslästerungen und Unzüchtigkeiten ein.
»Wie steht es mit der Ernährung genau?« fragte Richelieu.
»Das Mehl wird knapp, Brot bäckt man aus einem Gemisch von etwas Weizen und viel Stroh, es ist unappetitlich und schmeckt
nach nichts. Gewiß wimmelt es in der Bucht von Fischen, aber die
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