Kardinalspoker
musste er sich tatsächlich an seine beamtenrechtliche
Verpflichtung halten? Böhnke hatte sich im Tiefenbachtal hinter dem Jugendzeltplatz
auf den Wanderweg nach Dedenborn begeben. Die schlechte Erinnerung und die Todesgefahr,
die er mit diesem Weg verband, hatte er inzwischen verdrängt. Damals hatte er darauf
hoffen müssen, dass ihm jemand aus der lebensbedrohlichen Lage half, jetzt schnarchte
vermutlich jemand in seiner Wohnung, der darauf hoffte, dass ihm geholfen wurde.
Eine Begegnung mit Schulze-Meyerdieck, seinem Nachfolger als Leiter des Kommissariats
für Tötungsdelikte, würde wahrscheinlich wieder mit gegenseitiger Missachtung enden.
Konnte er sicher sein, dass Lipperich ihn nicht umbringen würde, so wie er nach
Auffassung der Staatsanwaltschaft schon drei Menschen nach seiner Haftentlassung
getötet hatte? Wankelmütig schwankte Böhnke zwischen Tätigen und Unterlassen eines
Anrufes bei der Polizei. Machte er sich strafbar, wenn er einen flüchtigen Mordverdächtigen
bei sich beherbergte? Gehörte es zum Schutz eines Mandanten, wenn man ihn vor der
U-Haft bewahrte? Zu einer Erkenntnis kam er: Gesetzeskonform handelte er nicht,
wenn er Lipperich nicht verriet, immerhin deckte er durch sein Verhalten einen potenziellen
Mörder.
Im Café in Dedenborn setzte er seine unterbrochene
Zeitungslektüre fort. Ein wenig wunderte er sich, in keiner Journaille einen Bericht
über Lipperichs Flucht zu finden. Die Fahnder würden wohl einen Grund haben, warum
sie die Öffentlichkeit noch nicht informiert hatten, dachte er sich. Nach den vielen
negativen Schlagzeilen über die Justizvollzugsanstalt in Aachen in den letzten beiden
Jahren wegen prügelnder oder an Flucht beteiligter Wachbeamter passte eine erneute
Flucht eines Häftlings, auch wenn es ein U-Häftling war, nicht in das Bemühen der
Anstalt, ihren ramponierten Ruf zu polieren. Diese Überlegung gab für ihn den Ausschlag:
Wenn die Behörden Lipperichs Flucht verschwiegen, konnte auch er schweigen. Ihm
war klar, dass er dadurch eine Entscheidung vor sich her schob. Aber warum sollte
er aktiv werden, wenn die Fahnder die Öffentlichkeit noch nicht zur Mithilfe aufgefordert
hatten?
Gespannt kletterte er in den Bus,
der ihn zurück nach Huppenbroich bringen würde; gespannt, ob er Lipperich in seiner
Wohnung antreffen würde.
Das Badezimmer war aufgeräumt und trocken, der
Küchentisch leer und das Frühstücksgeschirr gespült. Im Wohnzimmer schien nichts
verändert, auch der Laptop stand noch dort, wo er ihn abgestellt hatte. Lipperich
hatte sich augenscheinlich als Hausmann betätigt, bevor er sich zurückgezogen hatte.
Die leichten, rhythmischen Schnarchgeräusche oberhalb der schmalen Holztreppe zum
Gästezimmer verrieten ihm, dass der Flüchtling tief schlief.
Beim Scheppern der Türglocke erschrak
nicht nur Böhnke, auch das Schnarchen stoppte abrupt. Vorsichtig öffnete der Pensionär
und erkannte Walter Lipperich.
»Ist mein Sohn schon bei Ihnen?«,
fragte der kleine Mann.
»Nein«, log Böhnke spontan. »Warum
sollte er bei mir sein? Der ist doch im Knast. Oder?« Das fehlte ihm noch, dass
er in eine Familienangelegenheit geriet, die er nicht durchschauen konnte. »Und
jetzt verschwinden Sie!«, fauchte er den Alten an. »Ich habe keine Zeit.«
Beschwichtigend hob Lipperich die
Hände. »Ist ja gut. Wenn Josef bei Ihnen aufkreuzen sollte, sagen Sie ihm, ich bin
in der Alten Post.«
Kaum hatte Böhnke die Haustür geschlossen,
kletterte Lipperichs Sohn die Treppe herunter. »Warum haben Sie meinen Vater belogen?«,
fragte er in einem höflichen Ton, weder aggressiv noch verärgert, einfach nur höflich.
»Weil ich zuerst mit Ihnen klarkommen
möchte«, antwortete Böhnke. »Ihr Vater ist mir zu kompliziert und zu anstrengend
und hat mich zu oft in die Irre geführt.« Er betrachtete seinen Gast, der nur mit
einer bunten Boxershorts bekleidet war. »Moment.«
Er suchte in seinem Kleiderschrank
nach einer alten und daher ausgeleierten Sporthose und einem großen, ungetragenen
Flanellhemd, das er irrtümlich gekauft hatte. Die Sachen saßen zwar eng an dem stämmigen
Lipperich, aber er bot, derart bekleidet, immer noch einen besseren Anblick als
ein kräftiger Mann in einer schmutzigen Unterhose.
»Verraten Sie mir bitte zunächst was über Ihren Vater«, bat er Lipperich,
als sie sich gegenüber am Küchentisch saßen und eine Dosensuppe verspeisten. »Warum
hält der mit seinem Wissen hinterm Berg und sagt nur die Hälfte von
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