Kardinalspoker
Scheppern der Türglocke störte Böhnke bei seiner Zeitungslektüre
am Frühstückstisch. Normalerweise interessierte er sich nicht für die Europapolitik,
aber diesen Artikel las er mit Interesse. Wahrscheinlich lag es am Thema, dem Braunkohletagebau
in der Region zwischen Aachen, Köln und Düsseldorf mit den drei riesigen Löchern.
Ein Europaparlamentarier aus der Städteregion Aachen von der Sozialdemokratischen
Fraktion im EU-Parlament sprach sich für eine langjährige, intensive Nutzung der
Braunkohle aus, seine ökologisch angehauchte Parlamentskollegin Regina Engelen aus
Köln hingegen beklagte einen umweltpolitischen und energiepolitischen Wahnsinn,
der sofort beendet werden müsse.
Gestört durch das Läuten, erhob
er sich und öffnete ungehalten die Tür. Sofort erkannte Böhnke den Besucher wieder,
obwohl er ihn vor rund 15 Jahren das letzte Mal zu Gesicht bekommen hatte. Josef
Lipperich stand, Einlass begehrend, im Eingang.
Er hatte wenig Ähnlichkeit mit seinem
kleinen Vater. Groß und stämmig, fast schon bedrohlich, hatte er sich vor Böhnke
aufgebaut. Seine Kleidung war verschmutzt und am rechten Hemdsärmel eingerissen.
Das braune Haar hing Lipperich zerzaust in die hohe Stirn. Mit seinen blassen, trüben
Augen wirkte er übernächtigt.
Und sein Ziel war offensichtlich
der Hühnerstall von Böhnke in Huppenbroich.
»Lassen Sie mich rein, bitte«, krächzte
Lipperich fast flehentlich. »Ich kann nicht mehr.« Er hatte sich am Türrahmen abgestützt
und begann zu zittern.
Unwillkürlich trat Böhnke zur Seite.
Bloß keine Aggressionen erzeugen!, dachte er sich. Er wusste, dass er vertrauensvoll
wirken konnte, dass selbst Verbrecher Zutrauen zu ihm entwickelten. Warum also sollte
er sich gegen seine Natur verhalten, in einer Situation, in der er letztendlich
doch den Kürzeren ziehen würde. Der Riese vor ihm hätte im Streitfall leichtes Spiel.
»Was wollen Sie, Herr Lipperich?«,
fragte er höflich. Er registrierte das irritierte Aufblitzen in den Augen des Riesen,
der schnell in die Wohnung eintrat.
»Eine Tasse Kaffee, eine heiße Dusche
und ein warmes Bett«, antwortete Lipperich müde und ließ sich auf den Küchenstuhl
sinken. »Und dann brauche ich Ihre Hilfe, Herr Böhnke.«
»Wieso?«
»Weil mein Alter mir gesagt hat,
es gibt nur einen Menschen, der mir helfen kann. Und das sind Sie.«
Nachdenklich füllte der Pensionär
den Kaffee in die Tasse, die er für Lipperich aus dem Schrank geholt hatte. »Sie
haben den richtigen Zeitpunkt gewählt. Ich war fast fertig mit dem Frühstück«, versuchte
er zu scherzen. Er setzte sich auf die Küchenbank und beobachtete den erschöpften
Mann.
»Eine Frage noch, warum sind Sie
geflohen?«
»Weil mir niemand glaubt, Herr Böhnke.
Ich bin unschuldig und ich kann es nicht beweisen, wenn ich in U-Haft sitze.«
Böhnke beließ es bei der Antwort.
»Die Dusche ist direkt rechts neben der Haustür«, sagte er stattdessen. »Ein Bett
finden Sie oben im Gästezimmer.« Er betrachtete den erschöpften Mann, der nicht
nach Mitte 40, sondern eher nach Anfang 60 aussah.
»Ich gehe jetzt ins Dorf. Ich muss
meinen Spaziergang machen.«
»Wehe, Sie alarmieren die Bullen«,
sagte Lipperich drohend.
Böhnke lachte ihn an. »Ich denke,
Sie wollen meine Hilfe. Dann müssen Sie mir auch vertrauen«, erwiderte er im Weggehen.
Er war gespannt, ob der nicht geladene
Gast nach seiner Rückkehr noch in der Wohnung wäre oder ob er das Weite gesucht
hätte. Er war jedenfalls froh, zunächst aus der unerwarteten und angespannten Situation
herauszukommen. Große Beute würde Lipperich nicht mitnehmen, falls er abhauen sollte;
allenfalls Grundlers Laptop brachte ein paar Kröten.
Aber Lipperich
würde nicht flüchten, wenn er sich unschuldig sah. Schaun mer mal, zitierte Böhnke
einen vermeintlichen Fußballkaiser, der in der letzten Zeit den Namen Firlefranz
erhalten hatte.
Sollte er oder sollte er nicht? Er schwankte und
machte sich die Entscheidung schwer. Die einzigen Menschen, die er um Rat fragen
könnte und wollte, waren nicht zu sprechen. Lieselotte war auf Kundenbesuch, Tobias
turnte im Amtsgericht herum. Beide würden erst am Nachmittag erreichbar sein. Bis
dahin musste er aber seine Entscheidung längst getroffen haben. Wegen seiner Verpflichtung
als Staatsbediensteter und Kriminalkommissar a. D. gab es eigentlich nur eine Möglichkeit:
Er musste im Polizeipräsidium in Aachen anrufen und das Auftauchen von Lipperich
in Huppenbroich melden. Aber
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