Karibische Affaire
Wo bleibt da die Logik?«
»Zu verstehen wäre es schon«, sagte Miss Marple.
»Dann erklären Sie mir, wie!«
»Sehen Sie, wie Major Palgrave sagte, hatte er den Mann niemals selbst gesehen. Er wusste das alles von einem Arzt, und der hat ihm das Foto als Kuriosum überlassen. Major Palgrave mag seinerzeit das Foto ja ziemlich genau angesehen haben, aber dann blieb es als Andenken in seiner Brieftasche. Vielleicht hat er es ab und zu jemandem gezeigt, wenn er die Geschichte erzählte. Und noch etwas, Mr Rafiel: Wir wissen nicht, wie lange das alles her ist! Darüber hat mir der Major nichts gesagt. Manche seiner Tigergeschichten zum Beispiel liegen zwanzig Jahre zurück.«
»Weiß Gott, das tun sie«, sagte Mr Rafiel.
»Ich kann mir also nicht vorstellen, dass Major Palgrave dieses Gesicht bei einer zufälligen Begegnung wiedererkannt hätte. Aber es ist sehr wohl denkbar – und ich bin fast sicher, dass es so war – dass er während des Erzählens nach dem Foto gesucht, es herausgenommen und das Gesicht darauf genau betrachtet hat. Und als er dann aufblickte, sah er dasselbe Gesicht oder ein sehr ähnliches aus einiger Entfernung auf sich zukommen!«
»Ja«, sagte Mr Rafiel abwägend, »ja, das wäre denkbar.«
»Er wirkte so überrascht«, sagte Miss Marple, »schob das Bild in die Brieftasche zurück und begann ziemlich laut von etwas anderem zu sprechen.«
»Aber er kann seiner Sache nicht sicher gewesen sein«, kombinierte Mr Rafiel.
»Nicht im Moment«, sagte Miss Marple. »Aber nachher wird er das Foto sehr genau studiert und sich den Mann gut angesehen haben, um sich darüber klar zu werden, ob es nur Ähnlichkeit oder tatsächlich dieselbe Person war.«
Mr Rafiel dachte nach, dann schüttelte er den Kopf.
»Etwas stimmt da nicht. Das Motiv ist unzureichend – völlig unzureichend! Sie sagen, er hat sehr laut mit Ihnen gesprochen?«
»Ja«, sagte Miss Marple, »ziemlich laut. Er hatte von Natur aus ein lautes Organ.«
»Das ist nur zu wahr – man kann schon sagen, er brüllte. Also musste, wer immer herankam, verstehen, was er sagte?«
»Ich kann mir vorstellen, dass der Major ziemlich weit zu hören war.«
Wieder schüttelte Mr Rafiel den Kopf. »Es ist unwahrscheinlich – zu unwahrscheinlich! Alle Welt würde nur darüber lachen! Da erzählt so ein alter Dummkopf eine Geschichte weiter, die er nur vom Hörensagen kennt, und zeigt dazu ein Foto herum, und das alles dreht sich um einen Mord, der vor vielen Jahren begangen worden ist! Oder doch vor ein paar Jahren. Ja, wie in aller Welt soll denn das den betreffenden Mann beunruhigen? Keinerlei Beweise, nur ein wenig Klatsch, eine Geschichte aus dritter Hand! Er könnte die Ähnlichkeit sogar zugeben, könnte sagen: ›Ja, wirklich, ich sehe diesem Kerl ähnlich – und wie! Ha, ha!‹ Und niemand würde den alten Palgrave ernst nehmen. Widersprechen Sie nicht! – Nein, der Bursche, wenn er es war, hatte nichts zu fürchten – überhaupt nichts! Zum Lachen, das Ganze, mehr nicht! Und da soll er nun den alten Palgrave ermordet haben? Das wäre doch ganz überflüssig gewesen, sehen Sie das nicht ein?«
»Oh, das sehe ich schon ein«, gab Miss Marple zu, »da haben Sie völlig Recht! Das ist es ja, was mir keine Ruhe lässt! So wenig Ruhe, dass ich heute die ganze Nacht nicht geschlafen habe.«
Mr Rafiel starrte sie an. »Also, heraus damit! Sie haben etwas«, sagte er dann.
»Vielleicht ist alles ganz falsch«, sagte Miss Marple zögernd.
»Höchstwahrscheinlich«, sagte Mr Rafiel grob wie immer. »Erzählen Sie es aber trotzdem! Was hat denn die Morgenstunde für Sie im Mund gehabt?«
»Es gäbe da ein sehr starkes Motiv, wenn – «
»Wenn was?«
»Wenn – für die nähere Zukunft – ein anderer Mord geplant war.«
Mr Rafiel riss die Augen auf und versuchte, sich in seinem Stuhl ein wenig aufzusetzen.
»Erklären Sie sich deutlicher!«, sagte er.
»Ach, ich kann das so schlecht!« Miss Marple redete rasch und ein wenig sprunghaft, wobei ihr eine feine Röte in die Wangen stieg. »Nehmen wir mal an, es war tatsächlich ein Mord geplant. Wie Sie sich erinnern, handelte die Geschichte, die mir Major Palgrave erzählte, von einem Mann, dessen Frau unter verdächtigen Umständen starb. Dann, nach einer gewissen Zeit, erfolgte ein weiterer Mord unter den gleichen Umständen: ein Mann anderen Namens verlor seine Frau auf ganz ähnliche Weise, und der Arzt, der davon erzählte, erkannte in ihm denselben Mann. Sieht doch ganz nach
Weitere Kostenlose Bücher