Karibische Affaire
gut, wen sollen wir als nächsten vornehmen – Jackson? Denn von mir sehen wir ab.«
Zum ersten Mal lächelte Miss Marple.
»Warum gerade von Ihnen, Mr Rafiel?«
»Weil, wenn Sie über mich als möglichen Mörder sprechen wollen, Sie das mit jemand anderem tun müssten. Mit mir wäre es nur Zeitverschwendung. Und außerdem – bin ich denn geeignet für diese Rolle? Man muss mich aus dem Bett heben wie eine Puppe, man muss mich anziehen, im Rollstuhl herumfahren – keinen Schritt kann ich ohne fremde Hilfe tun! Wie sollte ich hingehn und jemanden umbringen können?«
»Sie haben ebenso viele Möglichkeiten wie jeder andere«, sagte Miss Marple energisch.
»Und wie stellen Sie sich das vor?«
»Nun, Sie werden doch zugeben, dass Sie Verstand haben?«
»Natürlich«, erklärte Mr Rafiel. »Sogar etwas mehr als alles, was hier herumläuft, würde ich sagen.«
»Und Verstand überwindet die physischen Schwierigkeiten.«
»Das wäre sehr mühsam!«
»Ja«, sagte Miss Marple, »mühsam wäre es schon. Aber ich glaube, Mr Rafiel, es würde Ihnen Spaß machen!«
Mr Rafiel starrte die Sprecherin eine ganze Weile an, dann lachte er auf. »Sie haben Nerven!«, sagte er. »Und so was will eine vergessliche alte Dame sein! Sie glauben also wirklich, dass ich ein Mörder bin?«
»Nein«, sagte Miss Marple, »das tue ich nicht.«
»Und warum nicht?«
»Nun, eben weil Sie Verstand haben. Wenn man Verstand hat, kann man das meiste auch ohne zu morden bekommen.«
»Und außerdem, wen zum Teufel, sollte ich ermorden wollen?«
»Das wäre eine interessante Frage«, sagte Miss Marple. »Aber ich habe noch nicht das Vergnügen gehabt, lange genug mit Ihnen zu plaudern, um darüber eine Theorie aufzustellen.«
Mr Rafiels Lächeln verbreiterte sich.
»Gar nicht so ungefährlich, mit Ihnen zu plaudern«, sagte er.
»Konversation ist immer gefährlich, wenn man etwas zu verbergen hat«, sagte Miss Marple.
»Da können Sie Recht haben. Sehen wir uns jetzt diesen Jackson an. Was halten Sie von ihm?«
»Das ist schwer zu sagen. Ich habe noch kein einziges Mal mit ihm gesprochen.«
»Also haben Sie in seinem Fall keine Meinung?«
»Irgendwie erinnert er mich an einen jungen Mann«, sagte Miss Marple nachdenklich, »im Büro des Stadtsyndikus bei mir zuhause. Jonas Parry heißt er.«
»Und?«, fragte Mr Rafiel gespannt.
»Man war nicht sehr mit ihm zufrieden«, sagte Miss Marple.
»Mit Jackson bin ich auch nicht zufrieden. Er passt mir soweit ganz gut, macht seine Arbeit einwandfrei, und es macht ihm nichts aus, wenn man ihn anschreit. Ich bezahle ihn gut, und er weiß das. Vertrauensposten würde ich ihm aber keinen geben. Möglich, vielleicht hat er eine reine Weste – seine Referenzen waren gut, wenn auch von einer gewissen Reserviertheit. Glücklicherweise habe ich keine strafbaren Geheimnisse – so bin ich kein Objekt für Erpressung.«
»Keine Geheimnisse?«, fragte Miss Marple nachdenklich. »Sie haben doch sicherlich Geschäftsgeheimnisse, Mr Rafiel?«
»Zu denen hat Jackson keinen Zutritt. Nein, Jackson mag ein aalglatter Bursche sein, aber ein Mörder ist er nicht! Das liegt einfach nicht auf seiner Linie.«
Nach einer Pause fuhr Mr Rafiel fort: »Wissen Sie, wenn man diese ganze fantastische Angelegenheit aus einiger Distanz betrachtet – diesen Major Palgrave mit seinen lächerlichen Geschichten und das ganze Drum und Dran –, dann sitzen die Akzente falsch. Eigentlich hätte doch ich ermordet werden müssen!«
Überrascht blickte Miss Marple ihn an.
»Ja, das wäre die richtige Rollenverteilung gewesen«, erklärte Mr Rafiel. »Wer ist in den Mordgeschichten immer das Opfer? Die älteren Männer mit dem vielen Geld!«
»Aber da gibt es dann auch immer Leute, die auf dieses Geld scharf sind«, ergänzte Miss Marple. »Trifft das auch bei Ihnen zu?«
»Nun – « Mr Rafiel dachte nach, »ich kenne fünf oder sechs Burschen in London, die meine Todesanzeige in der Times nicht gerade erschüttern würde. Aber sie würden nichts tun, um mein Ableben zu beschleunigen. Warum auch? Ich kann jeden Tag sterben, alle Welt wundert sich, dass ich überhaupt noch lebe, die Ärzte eingeschlossen.«
»Ja, Sie haben einen sehr starken Lebenswillen«, sagte Miss Marple.
»Wundert Sie das?«, fragte Mr Rafiel.
Miss Marple schüttelte den Kopf.
»O nein«, sagte sie. »Das ist nur natürlich. Das Leben wird um so lebenswerter und interessanter, je näher es ans Sterben geht. Das ist vielleicht gar nicht gut,
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