Karin Schaeffer 03 - Die stumme Zeugin
Krankenhaus besuchen können.«
»Verstehe.«
»Die Sekretärin der Schule hat sich bereit erklärt, bei Abby daheim anzurufen, und dabei erwähnt, dass die Mutter nicht berufstätig ist. Ich schaue dort jetzt mal vorbei.«
»Ich komme mit.«
»Also ehrlich, Karin ...«
»Ist schon gut.« Ich stand auf. »Ich hole nur schnell meinen Mantel.«
»Das war nicht der Grund, weswegen ich hergekommen bin, und du weißt das ganz genau. Du kannst mich nicht begleiten. Es wirkt total unprofessionell, wenn ich während der Arbeit jedes Mal mit dir irgendwo aufkreuze. Wart’s nur ab, bald glaubt Dash, ich hielte sie nicht für eine gute Partnerin, und auf den Stress kann ich gut und gern verzichten.«
»Ich muss ein paar Besorgungen machen und daher in die gleiche Richtung.«
»In welche Richtung?«
Jetzt hatte er mich überlistet, denn er hatte mir die Adresse der Dekkers nicht verraten. Das hinderte mich allerdings nicht daran, mir Mantel und Tasche zu schnappen. Anschließend wartete ich im Flur auf ihn.
»Bin gleich fertig mit dem Fesseln der Prinzessin, Pirat Bill!«, rief Ben Billy zu, der durch das Wohnzimmer widerwillig auf mich zuging.
»Gute Arbeit, Maat! Und jetzt nimmst du ihr die Fesseln ab und ... verfütterst sie an die Haie.«
Voller Begeisterung machte Ben sich an die neue Aufgabe.
»Danke, Billy«, sagte Chali und strahlte übers ganze Gesicht.
»Ich glaube nicht, dass ich schon mal jemanden getroffen habe, der seinem Schicksal so frohgemut entgegensieht«, meinte er.
»Sie wären auch glücklich, wenn Ihre Tochter bald aus Indien anreisen würde.«
»Wann ist denn der große Tag?«
»Am 1. Januar – Neujahr. Ich habe eben die Flugbestätigung erhalten. Sie wird eine Stunde früher als zunächst geplant eintreffen, was mich natürlich freut. Ich bin schon ganz aufgeregt.«
»Das ist ja großartig, Chali!«, rief ich. Offenbar hatte sie die Mail wirklich gerade erst bekommen, denn sonst hätte sie mir schon früher davon erzählt. Chali plante das Wiedersehen mit ihrer Tochter bereits seit einer ganzen Weile, und ich vermutete, dass sie Dathi nicht zu ihrer Großmutter nach Indien zurückschicken wollte. Das Arrangement, dass Chali in den USA genug Geld verdiente, um für den Lebensunterhalt ihrer Familie und das Schulgeld ihrer Tochter aufzukommen, hatte gut funktioniert, aber die Großmutter wurde auch nicht jünger, und ihre Gesundheit ließ zu wünschen übrig.
»Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr ich mein Kind vermisse.«
»Seit sie sich das letzte Mal gesehen haben, ist fast ein Jahr vergangen«, erklärte ich Billy, während er seine Jacke anzog, und öffnete dann die Haustür. »Bin bald wieder da, Chali. Ich gehe kurz mit Billy weg ... Ähm, nein, ich meinte, ich muss ein paar Besorgungen machen.«
»Lügen hast du echt nicht drauf«, konstatierte Billy, bevor wir uns auf den Weg machten.
»Woher willst du das denn wissen? Möglicherweise bin ich eine so gute Lügnerin, dass es dir meistens gar nicht auffällt, wenn ich die Unwahrheit sage.«
Gemeinsam marschierten wir die Bergen Street entlang und damit ein Stück desselben Wegs, den wir erst vergangene Nacht zurückgelegt hatten. Irgendwann fiel mir auf, dass er aufgehört hatte, mich von meinem Vorhaben abzubringen, und da hörte ich auch auf, so zu tun, als hätte ich die Absicht, Besorgungen zu machen.
Wie sich herausstellte, waren die Dekkers quasi unsere Nachbarn: Sie wohnten nur zwei Blocks weiter unten zwischen der Hoyt Street und der Nevins Street. Gegen halb drei erreichten wir das Haus, stiegen die Stufen hoch und läuteten. Das Haus wirkte ungewöhnlich still und verlassen, was mich befremdete. Die Sonne schien so stark, dass ihre Strahlen von den Fenstern gespiegelt wurden. Niemand öffnete die Tür. Ich läutete abermals, während Billy sich vorbeugte und vergeblich versuchte, durch eines der Fenster zu spähen. Die Vorhänge waren zugezogen, so als ob heute Morgen in diesem Haus niemand aufgestanden wäre, um den neuen Tag hereinzulassen.
KAPITEL 4
»Wollen Sie zu den Dekkers?«
Ich drehte mich nach rechts und erblickte eine kleine Frau mit schwarz gelockten Haaren, die auf der Treppe nebenan stand und uns neugierig beäugte. Durch ihre offenstehende Haustür erhaschte ich einen Blick auf den auf Hochglanz gebohnerten Eichenboden, auf das untere Ende eines Geländers und auf einen prächtigen Kristalllüster. Im Wohnzimmer, das an den Flur angrenzte, stand eine kleine Staffelei mit einer plumpen
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