Karin Schaeffer 03 - Die stumme Zeugin
hatte sie eine Tochter auf die Welt gebracht, nachdem sie mit einem Vierundsechzigjährigen zwangsverheiratet worden war. Als sie mir schilderte, wie sie vor vier Jahren neben ihrem toten Gatten aufgewacht war – er hatte nachts einen Herzinfarkt erlitten -, erweckte sie den Eindruck, dass dieser Verlust sie nicht sonderlich deprimiert hatte. Eine ganze Weile lang hatte sie gegen die drohende Armut gekämpft und verzweifelt versucht, sich und ihre kleine Tochter Dathi über Wasser zu halten. Doch schließlich hatte sie aufgegeben, ihr Kind – wie viele andere Mütter in der Dritten Welt – einem Familienmitglied anvertraut und war Tausende von Meilen gereist, um ihre Sippe aus der Ferne finanziell zu unterstützen. In dieser Hinsicht unterschied sich Chali, die für mich ansonsten eine einzigartige Person war, nicht im Geringsten von den Heerscharen anderer Kinderfrauen und Haushälterinnen, die nach Amerika flohen, schweren Herzens die eigenen Kinder zurückgelassen hatten und sich um fremde Familien kümmerten, um die eigene in der alten Heimat durchzubringen. Sie besaß einen scharfen, wenn auch wenig gebildeten Verstand, zeichnete sich durch eine erfrischende Mischung aus Frohnatur und Ehrlichkeit aus und war darüber hinaus absolut zuverlässig. Bislang hatte sie uns noch nie im Stich gelassen, und ich wusste, dass sie dies auch in Zukunft nicht tun würde. Je länger sie für uns arbeitete – inzwischen tat sie dies seit mehr als einem Jahr -, desto stärker sah ich in ihr ein Familienmitglied.
Ben stieß die Tür weit auf, sprang sofort auf das Bett und schlüpfte zu Mac unter die Decke. »Daddy brennt!«
»Daddy ist krank«, warnte Chali. »Lass ihn in Ruhe.«
»Nein, schon gut«, sagte Mac. »Ich kann eine Umarmung gut gebrauchen.«
»Ich habe etwas zum Mittagessen zubereitet.«
»Chali, das ist wirklich sehr nett, aber ich bin nicht krank«, erklärte ich.
Sie schmunzelte. »Umso besser. Setzen Sie sich bitte, und nehmen Sie mir die Suppe ab, bevor ich sie noch verschütte.«
Ich stellte eine der Schalen auf meinen Nachttisch und half Chali, das Tablett auf Macs Schoß zu platzieren. Gemeinsam suchten wir ein paar Kissen zusammen, damit er im Sitzen essen konnte. Während wir ihm halfen, sich aufzurichten, erhaschte Chali einen Blick auf den Laptop, auf dem Reed Dekkers Porträt zu sehen war.
»Ich kenne ihn, aber ich weiß nicht, woher«, meinte sie.
»Mac kennt ihn aus dem Fitnessstudio«, erklärte ich. »Da er in unserem Viertel wohnt, bist du ihm bestimmt schon mal begegnet.«
»Könnte durchaus sein.« Sie machte diese für Inder so typische Kopfbewegung, die Zustimmung signalisierte. »Aber den Namen Dekker habe ich auch schon mal irgendwo gehört.«
»Seine Tochter wurde vergangene Nacht von einem Auto angefahren. Das ist auch einer der Gründe, wieso ich heute so lange geschlafen habe. Billy war am Tatort, und ich habe mich dort mit ihm getroffen.«
Ben löste sich aus Macs Umarmung, glitt vom Bett und stürmte aus dem Zimmer.
»Bleiben Sie im Bett und ruhen Sie sich aus«, empfahl Chali, ehe sie Ben hinterherlief. »Ich komme nachher noch mal und hole das Tablett.«
Ich hörte ihre Schritte, als sie nach oben gingen und dann dort im Wohnzimmer herumliefen.
Nachdem wir unsere Suppe gegessen hatten, beschloss ich, meine E-Mails abzurufen und anschließend zu duschen. Keine der eingegangenen Nachrichten war wichtig. Ich wollte schon aufstehen, drehte mich dann aber noch mal zu Mac um und sah, dass er die Decke wieder bis zum Kinn hochgezogen hatte.
»Soll ich auch deine abrufen?« Gestern Morgen hatten wir eine Anzeige auf Craigslist geschaltet, denn wir suchten für Macs Firma MacLeary Investigations eine Teilzeitkraft für das Büro. Da die Geschäfte gut liefen, brauchten wir dringend Unterstützung, um die anfallenden Arbeiten zu bewältigen. Für Interessenten hatten wir seine E-Mail-Adresse angegeben, und ich nahm an, dass er noch keinen Blick in seinen Posteingang geworfen hatte.
Er nickte.
Ich öffnete sein Postfach und wurde von der Fülle der Nachrichten erschlagen.
»Was für eine Resonanz!« Ich drehte den Laptop so, dass er den Bildschirm sehen konnte. »Und es kommen noch weitere Antworten herein.«
Einhundertsiebzehn Personen hatten bislang auf seine Anzeige reagiert, und während wir aus dem Staunen gar nicht mehr herauskamen, trafen zwei weitere ein. Und dann noch eine und noch eine. Nicht zu fassen, wie viele Menschen sich auf eine läppische Teilzeitstelle
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