Karin Schaeffer 03 - Die stumme Zeugin
und verliehen dem Raum den Charme des neunzehnten Jahrhunderts, doch gleichzeitig wurde dem Betrachter die Weitläufigkeit eines Lofts vorgegaukelt. Es gab eine Menge geschnitztes Holz, modische Teppiche, hochmoderne Lampen, antike Möbel und eine High-End-Stereoanlage. Auf dem unteren Treppenabsatz stand neben einem riesigen Spiegel eine hohe Vase auf einem Podest, ein Gebilde aus orangefarbenem und rotem Glas, das nur eine einzelne Blume aufnahm und wirkte, als würde es beim leisesten Luftzug zerbrechen. In einer Ecke des Wohnzimmers gab es einen Stutzflügel, auf dem mehrere Bilderrahmen standen. Auf einer Aufnahme waren Reed, der breit grinste, und Marta gemeinsam abgelichtet. Sie trug hübsche Ohrringe, die teilweise von dem rotbraunen Haar verdeckt wurden, das bis zu den Schultern herabhing. Auf dem nächsten Bild, das sicherlich ein Berufsfotograf geschossen hatte, waren alle drei Familienmitglieder zu sehen. Dann gab es noch ein Foto von Reed und einem Mann auf einem Fischkutter und ein halbes Dutzend Bilder von Abby, die sie in unterschiedlichen Lebensaltern zeigte.
»Marta!« Die Selbstverständlichkeit, mit der Gay sich in diesem Haus bewegte, machte deutlich, wie gut sie sich hier auskannte. Sie ging durch eine Tür mit Rundbogen. Dahinter war eine Kücheninsel mit gesprenkelter Granitplatte, auf der eine Keramikschale mit Äpfeln stand. Während ich Gay folgte, schaute ich mich im Essbereich um. Plötzlich stieß sie einen Schrei aus.
In der Küche lag ein Mann mit dem Gesicht nach oben in einer Lache aus Blut, das langsam zu trocknen begann. Er hatte die gleiche Haarfarbe wie Reed Dekker auf dem Profilfoto; doch sein zerschossenes Gesicht – ein blutiger Brei aus Fleisch und Knochensplittern – war bis zur Unkenntlichkeit entstellt. An der Decke und der Wand klebten Blutspritzer. Es kostete mich große Überwindung, noch einen Moment länger hinzusehen, ehe ich mich abwandte. Da es keinerlei Anzeichen von Maden gab, konnte Reed Dekker nicht länger als einen Tag tot sein. Ich legte die Hand auf den Mund, um mich nicht zu übergeben.
Am ganzen Leib zitternd, rannte Gay an mir vorbei nach draußen zu Billy und brach in Tränen aus.
»Was?«, fragte er sie. »Bitte ... beruhigen Sie sich. Ich kann Sie sonst nicht verstehen.«
Nun hielt auch ich es nicht mehr in dem Haus aus. Im Vorgarten blickte Billy verdutzt zu Gay, die sich über einen Tontopf mit gefrorener Erde und bunten Bändern beugte und würgte. Orangina, ihre Katze, stand jetzt auf der Treppe des Nachbarhauses und ließ sie nicht aus den Augen.
Billy wandte sich an mich. »Was ist da drinnen los?«
»Reed Dekker ... ist tot.«
Ihm fiel die Kinnlade herab, als würden seine Kiefergelenke nicht mehr funktionieren. Innerlich wappnete ich mich schon, da ich befürchtete, die Nachricht könnte bei ihm erneut einen Flashback auslösen. Würde ich es mitkriegen, wenn das PTBS von seinem Verstand Besitz ergriff?
Glücklicherweise blieb er ganz der Alte und verwandelte sich nicht in Mr. Hyde. Mit einem leisen Seufzer holte er sein Handy heraus und sagte nur: »Ich muss das melden.«
Innerhalb von zehn Minuten tauchte die Verstärkung auf. Aus Zivilfahrzeugen, die vorfuhren und mitten auf der Straße parkten, stiegen Ermittler, die zusammen mit Billy das Haus betraten. Die Mitarbeiter der Spurensicherung kamen in einem ehemals weißen, jetzt von einer dicken grauen Staubschicht überzogenen Van und schleppten ihre Ausrüstung die Treppenstufen hoch. Streifenwagen blockierten beide Straßenenden. Die Namen aller Personen, die diesen Abschnitt verlassen oder betreten wollten, wurden notiert. Als die Medienvertreter auftauchten, verzog ich mich augenblicklich nach drinnen; um keinen Preis wollte ich Teil dieser Geschichte werden. Gay war längst in ihrem Sandsteinhaus verschwunden und hatte sich dort eingeschlossen.
Allem Anschein nach bewohnten die Dekker alle vier Etagen des Hauses, die nun von den Ermittlern akribisch durchsucht wurden. Über mir ertönten laute Schritte, die meine Aufmerksamkeit erregten, und instinktiv folgte ich diesem Geräusch. Dass mich niemand des Hauses verwies, kam mir sehr gelegen. Aus Erfahrung wusste ich, dass man Schaulustige an der ihnen eigentümlichen Mischung aus Angst, Fassungslosigkeit und Konfusion entlarven konnte. Da ich solche Situationen von früher zur Genüge kannte, fiel es mir leicht, in dem Chaos nicht weiter aufzufallen. Ein Detective kam die Treppe hinunter und nickte mir im Vorbeigehen zu. Ich
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