Karin Schaeffer 03 - Die stumme Zeugin
Skizze von einem Baum. Eine orangefarbene Katze rieb ihren Kopf am Türrahmen, wagte sich jedoch nicht nach draußen in die Kälte.
»Richtig«, antwortete Billy.
»Und ... wer sind Sie?«
Ich spürte deutlich, wie bei Billy die Verärgerung aus allen Poren drang, und ergriff das Wort, um ein potenzielles Wortgefecht zu vereiteln.
»Es geht um Abby.«
Die Frau nickte. »Dann sind Sie also mit den Dekkers befreundet. Ich bin Gay.« Sie sagte das, ohne mit der Wimper zu zucken; offenbar war sie daran gewöhnt, falsch verstanden zu werden. Mir entging nicht, dass sie einen Ehering trug.
»Ich bin Karin und wohne ein paar Blocks die Straße hoch. Kennen wir uns vom Spielplatz?« Das war faustdick gelogen. Ich hatte sie noch nie zuvor gesehen, doch ich wollte ihr Vertrauen gewinnen. »Ben, mein Sohn, ist fast vier. Wir sind da ziemlich häufig.«
Gay lächelte. »Kann durchaus sein. Meine Tochter Sarah ist fünf. Was ist denn nun mit Abby?«
»Ich bin ja nicht gern die Überbringerin schlechter Nachrichten, aber Abby wurde gestern Nacht von einem Auto angefahren, und wir konnten ihre Eltern nicht erreichen.«
Entsetzen und Skepsis spiegelten sich in Gays Miene. Vermutlich fragte sie sich, woher wir Bescheid wussten, während ihr, der Nachbarin, noch nichts zu Ohren gekommen war. Billy, der instinktiv spürte, dass wir im Begriff waren, ihr Wohlwollen zu verlieren, griff in seine Tasche und zog seinen Ausweis heraus.
»Karin ist eine Freundin von mir und wohnt ein Stück die Straße hoch. Ich bin Kriminalbeamter und arbeite auf dem 84.«
»Was soll das denn sein?« Gay trat einen Schritt näher, um Billys Ausweis genauer in Augenschein zu nehmen.
»Das hiesige Polizeirevier.«
»Oh.«
Ich war einfach fassungslos, enthielt mich jedoch eines Kommentars. Wie konnte es sein, dass jemand weder das nächstgelegene Revier kannte noch wusste, wo es war oder wie man es im Notfall erreichte?
»Marta hat übers Wochenende unsere Katze Orangina versorgt. Ich habe mich gleich nach unserer Rückkehr gestern Abend per SMS bei ihr bedankt, aber dann nichts von ihr gehört. Ziemlich merkwürdig. Normalerweise hat sie ihr iPhone immer griffbereit und antwortet umgehend. Ich habe ihren Hausschlüssel. Soll ich ...?« Ohne auf eine Antwort zu warten, lief sie in ihr Haus und kam mit einem Schlüsselbund zurück.
Nun hatte es mir endgültig die Sprache verschlagen. Was, wenn Billys Marke gar nicht echt gewesen wäre? Immerhin gab es unzählige Kriminelle und Betrüger, die durchaus in der Lage waren, Ausweise zu fälschen. Es mochte ja sein, dass ich das als ehemalige Polizistin überbewertete, aber Gays Naivität haute mich um. Gleichwohl verzichteten Billy und ich darauf, die Frau davon abzuhalten, die Tür aufzuschließen. Zwar durfte er als Polizist ohne Durchsuchungsbeschluss keinen Fuß in das Haus setzen, doch mir, einer besorgten Nachbarin, war das durchaus erlaubt. Und Billy hatte mich ja tatsächlich als Mutter aus dem Viertel und nicht als Privatdetektivin vorgestellt. Darüber hinaus bearbeitete ich den Fall nicht, sondern begleitete Billy nur.
»Wenn einer von uns in den Urlaub fährt, sieht der andere nach dem Haus«, erläuterte Gay und drehte den Schlüssel um hundertachtzig Grad, bis ein leises Klicken ertönte. Mit einem zweiten Schlüssel versuchte sie das obere Schloss aufzusperren, aber da tat sich nichts. »Komisch. Das hat doch sonst immer funktioniert.«
»Könnte sein, dass da gar nicht abgeschlossen worden ist«, mutmaßte Billy.
Gay drehte den Knauf – und tatsächlich, die Tür öffnete sich. »Sehr eigenartig. Die Dekkers schließen immer beide ab. Hm, wenn ich es mir recht überlege.« Sie zog die Tür zu, schloss unten ab und sogleich wieder auf. »Bisher ist mir das noch nie aufgefallen, aber das untere schließt von allein. Das heißt doch, dass es gar nicht doppelt verriegelt ist, wenn man den Schlüssel nur halb drehen muss. Wie es aussieht, hat jemand das Haus verlassen und nur die Tür hinter sich zugezogen.«
Billy und ich tauschten vielsagende Blicke aus.
Mit hochgezogener Stirn öffnete Gay erneut die Tür und betrat das Haus.
»Marta? Ich bin’s, Gay! Bist du da? Marta?«
Ich ließ Billy vor der Tür stehen und folgte Gay in die Diele, die wie in vielen anderen Sandsteinhäusern im Viertel mit dem Wohnzimmer zusammengelegt worden war, um den Vorstellungen von großräumiger moderner Architektur gerecht zu werden. Dekorative Details aus vergangenen Tagen waren restauriert worden
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