Karin Schaeffer 03 - Die stumme Zeugin
deutlich vor Augen, wie sehr ich mich daran gewöhnt hatte, dass Chali sich unter der Woche am Nachmittag um ihn kümmerte. Immer wieder schaute ich auf die Uhr, und es wurde später und später. Schließlich stellte ich entsetzt fest, dass ich mich schon in ein paar Minuten auf den Weg machen musste, um meine Mutter abzuholen. Allein der Gedanke, mit Ben eine geschlagene Stunde lang in der U-Bahn zu sitzen und ihn danach eine weitere Stunde im Wartezimmer des Arztes vom Herumtollen abzuhalten, stresste mich. Erneut wählte ich Chalis Handynummer, und wieder erreichte ich nur ihre Mailbox und musste zuhören, wie sie mit fröhlicher Stimme versprach zurückzurufen. Ich hinterließ ihr eine weitere Nachricht und überlegte, was ich jetzt tun sollte.
Das Knarzen der Treppenstufen verkündete, dass Mac aufgestanden war.
»Geht es dir gut?«, rief ich nach unten. »Brauchst du etwas?«
»Im Schlafzimmer halte ich es nicht mehr aus«, bekannte er mit schwacher Stimme. »Nur ... das Bett zu verlassen war anscheinend auch keine gute Idee.«
Ich ging ihm entgegen. Er war ein paar Stufen hochgestiegen und lehnte erschöpft am Treppengeländer.
»Ist dir schwindelig?«
»Das vergeht gleich.« Er nahm die nächste Stufe. »Ich kann einfach nicht mehr liegen.«
»Du bist ganz blass.« Ich legte den Handrücken auf seine Stirn. »Und heiß.«
»Heiß bist du auch, Schatz.« Er zwinkerte mir zu, was in dieser Situation weder lustig noch aufreizend war.
Ich dirigierte ihn zur Couch. Keuchend ließ er sich nieder und legte den Kopf auf ein Kissen, das ich ihm geholt hatte.
»Klasse Baum.« Er rang sich ein Lächeln ab.
»Ich muss zu meiner Mutter ... Ich habe versprochen, mit ihr zu Dr. Alderson zu gehen.«
»Wo ist Chali?«
»Keine Ahnung.«
»Geh nur. Ich passe auf Ben auf.«
»Das halte ich für keine gute Idee, Mac. Du kannst dich ja kaum auf den Beinen halten.«
»Schließ die Tür zum Flur und zur Küche, dann kann er mir nicht entwischen. Und bring uns etwas zum Knabbern und die Fernbedienung.«
Sein Vorschlag klang vernünftig. Er konnte es sich mit Ben auf dem Sofa gemütlich machen und mit ihm fernsehen. Das hatte bislang immer funktioniert. Und Chali würde bestimmt auch jeden Moment auftauchen. Ich stellte Saft, Wasser und Erdnussflips auf den Couchtisch, küsste meine Jungs zum Abschied und verließ das Haus.
* * *
Ein paar Stunden später stand meine Mutter vor dem Christbaum zwischen den hohen dunklen Wohnzimmerfenstern und befestigte Kugeln, die Ben ihr reichte, an den oberen Ästen. Sobald draußen ein Wagen vorbeifuhr, erstrahlte ihr kurzer weißer Haarschopf. In der freien Hand hielt sie ein fast leeres Weinglas.
»Das Alter ist ein Massaker«, meinte sie.
»Wie bitte?« Ich hob den Blick vom Boden, auf dem ich kleine dünne Haken an den Ösen der Christbaumkugeln anbrachte.
»Der Ausspruch stammt von Philip Roth. Und Bette Davis hat gesagt -«
»Alter ist nichts für Feiglinge.« Sie hatte diesen Satz schon einmal zitiert.
»So ist es.« Sie trank den letzten Schluck Weißwein und stützte sich mit der Hand am Fensterbrett ab. Da ihr Arzt entschieden hatte, ihr ein anderes Medikament gegen die Schmerzen zu verabreichen, musste sie das alte absetzen und nun eine kurze Pause einlegen, ehe sie das neue nehmen konnte. Der Wein sollte ihr helfen, die kommende Nacht durchzustehen. In den letzten drei Stunden war sie ständig auf den Beinen gewesen, weil ihr das Sitzen unerträglich war.
Es klingelte an der Tür. Mein Herz machte einen Freudensprung. Chali, dachte ich im ersten Moment. Aber das konnte nicht sein, denn sie besaß einen Hausschlüssel, und außerdem hatten wir nicht vereinbart, dass sie an diesem Abend auf Ben aufpasste. Ich stand auf und lief nach unten.
Vor der Tür stand der Mann vom Lieferservice. Ich bezahlte, nahm die Tüte mit dem bestellten Essen in Empfang und ging damit nach oben in die Küche. Für Ben gab es Huhn, Brokkoli und Reis, für meine Mutter und mich Pad Thai mit Shrimps. Wenn Mac aufwachte, würde ich ihm ein wenig Suppe aufwärmen.
Mom aß im Stehen und trank zu jedem Bissen einen Schluck Wein. Mir war klar, dass sie sich gegen den Vorschlag, bei uns zu übernachten, sträuben würde – aber wie sollte ich sie in ihrem Zustand nach Hause schaffen? Ich entschied, dieses Thema erst anzuschneiden, wenn ich Ben gebadet und ins Bett gebracht hatte. Sollte ich mit ihr eine DVD ansehen und darauf hoffen, dass sie dann vor lauter Erschöpfung einnickte und auf
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