Karin Schaeffer 03 - Die stumme Zeugin
Sohn sich geweigert hatte, beim Zirkeltraining seinen Platz für einen anderen Jungen zu räumen. Im Kindergarten achteten sie streng darauf, jedwede Form von unsozialem Verhalten im Keim zu ersticken, und falls sich eines der Kinder nicht an die Regeln hielt, wurden die Eltern umgehend informiert. Doch wie sollten die Kinder eigentlich lernen, Differenzen unter sich auszumachen, wenn sich sofort ein Erwachsener einmischte?
»Nein, er war ein Engel. Ich rufe an, weil seine Babysitterin ihn noch nicht abgeholt hat. Haben Sie für heute eine andere Abmachung getroffen?«
Laut meiner Computeruhr war es Viertel nach zwölf. Normalerweise tauchten Ben und Chali um diese Uhrzeit hier auf. »Wahrscheinlich steckt ihre U-Bahn irgendwo fest. Ich komme gleich vorbei und hole ihn ab.«
»Er kann gern länger bleiben. Allerdings essen jetzt die Kinder zu Mittag, die ganztags betreut werden, und wir können ihn nicht verpflegen.«
»Nein, schon gut. Ich mache mich sofort auf den Weg.«
Bis zum heutigen Tag hatte Chali sich noch nie verspätet, doch früher oder später passierte es jedem New Yorker, dass er irgendwo tief unter der Erde in einem dunklen Schacht festsaß. Ich schnappte mir Mantel und Tasche.
Draußen war es eiskalt und sonnig. Ich rannte die menschenleere Straße entlang und bog dann in die Smith Street, wo ich beinah mit den drei Musketieren zusammengestoßen wäre. Wie üblich redeten sie in einem fort, gingen jetzt allerdings in die entgegengesetzte Richtung, die sie morgens einschlugen. Kehrten sie um diese Uhrzeit immer von dem Ort zurück, den sie aufsuchten, wenn ich Ben in den Kindergarten brachte? Der Kleinste von ihnen – er trug gelb-rote Turnschuhe und eine Mets -Kappe – zuckte zusammen, als ich zufälligerweise in seine Nähe kam. Seine Koteletten hatte er so geschnitten, dass sie an Dolche erinnerten, und seine Haut wirkte grau und grobporig. Er roch nach Zigarettenrauch und Zahnpasta. Fast hätte ich mich bei ihm entschuldigt, aber sein verärgerter Blick hielt mich davon ab. Ich sah ihn missmutig an und ging schnellen Schrittes in Richtung Open House, das noch vier Blocks entfernt war.
Auf halber Strecke blieb ich beim Anblick von zwei Zeitungen, die vor einem Feinkostladen im Regal standen, wie angewurzelt stehen. Auf beiden Titelseiten war ein Foto vom Haus der Dekkers samt gelbem Absperrband und Blumensträußen auf der Vortreppe abgebildet. Eine Mutter, die ich vom Spielplatz kannte, schob ihre Tochter im Kindersportwagen an mir vorbei und blieb kurz stehen.
»Ist das nicht grauenvoll?«, fragte sie und setzte sich wieder in Bewegung.
Ich nickte nur. Wahrscheinlich interpretierte sie meinen erschrockenen Gesichtsausdruck als eine Reaktion auf das Verbrechen. Doch in Wirklichkeit irritierte mich, wie allgegenwärtig die Nachricht vom Tod der Dekkers war.
Zehn Minuten später joggte ich meinem auf dem Bobby-Car davoneilenden Sohn hinterher. Spontan beschloss ich, einen Abstecher zum Dekker-Haus zu machen, weil ich erfahren wollte, was sich dort tat, und Ben der kleine Umweg nicht auffallen würde. Daher überholte ich ihn und marschierte an der nächsten Ecke weiter geradeaus, anstatt abzubiegen. Er folgte mir und freute sich, auf seinem Gefährt dahinflitzen zu dürfen. Ich wurde langsamer und ließ ihn vor mir fahren, um ihn im Auge zu behalten. Als wir den Block der Dekkers erreichten, sah ich schon von fern, dass das geschäftige Treiben dort nicht geringer geworden war, sondern sich nur verändert hatte. Die Vans der Spurensicherung waren zwar verschwunden, doch Streifenwagen sperrten immer noch die Straße ab, und uniformierte Polizisten bewachten das Haus. Allem Anschein nach hatten sich noch mehr Reporter als gestern am Tatort eingefunden. Unter all den Blumen, Kerzen, Ballons und Stofftieren war die Außentreppe kaum noch zu erkennen.
»Eine Party!«, brüllte Ben und legte einen Zahn zu.
Ich rannte hinter ihm her und fing ihn noch rechtzeitig ab. »Wir sind nicht eingeladen. Komm, wir gehen auf die andere Straßenseite und dann nach Hause.« Vorsichtshalber legte ich die Hand auf seine Schulter und manövrierte ihn zwischen zwei parkenden Autos hindurch – verkehrserzieherisch betrachtet ein absolutes Unding. Doch plötzlich wollte ich nicht, dass er in der Nähe eines Tatorts war.
* * *
Nach dem Mittagessen kramte ich die Kiste mit dem Weihnachtsschmuck heraus und ließ Ben ein paar Kugeln aufhängen. Ihn zu beschäftigen war ganz schön anstrengend und führte mir
Weitere Kostenlose Bücher