Karin Schaeffer 03 - Die stumme Zeugin
Sitzgelegenheit, auf der sie es noch aushielt, einem dick gepolsterten weißen Ledersessel mit verstellbarer Rückenlehne und passendem Hocker für die Beine. Ich beugte mich nach unten und küsste sie.
Als sie die Tüte sah, musste sie schmunzeln. »Woher wusstest du, dass ich mich genau danach sehne?«
»Ist das so?«
»Darauf kannst du Gift nehmen.«
Ich begab mich in ihre winzige Küche, die frisch renoviert und ultramodern war, während sie die Antiques Roadshow ausschaltete. Mir gefiel die Schlichtheit und Sachlichkeit dieser Küche, in der es keinerlei Unordnung gab – im Gegensatz zu der großen Landküche meiner Jugendzeit in Montclair, New Jersey, wo jeden Nachtmittag stets ein heilloses Durcheinander geherrscht hatte, wenn Jon und ich von der Schule zurückgekommen waren. Auch Mom mochte ihre heutige Küche, die sie irgendwann einmal als »extraordinär« und »meditativ« bezeichnet hatte.
Inzwischen hatte meine Mutter sich an ihre Witwenschaft und ihr gemächliches Single-Dasein gewöhnt. Ich vertraute darauf, dass Mac, Ben und ich es schafften, dass bei ihr keinerlei Gefühle von Einsamkeit aufkamen; außerdem hatte sie sich seit ihrem Umzug nach Brooklyn, der schon ein paar Jahre zurücklag, mit einer Handvoll Leute angefreundet. Selbstverständlich hatten wir ihr angeboten, bei uns zu wohnen und Macs Arbeitszimmer für sie freizumachen, doch sie hatte uns erklärt, dass sie großen Wert auf ihre Privatsphäre lege und noch nicht bereit sei, darauf zu verzichten.
Ich kehrte mit zwei Löffeln und zwei weißen Schalen zurück, in die ich die hellrote Eiscreme gegeben hatte. Sie kostete davon und stieß einen Seufzer aus.
»Wie geht es Mac?«, erkundigte sie sich.
»Er ist noch nicht aus dem Gröbsten raus. Du hast dich doch gegen Grippe impfen lassen, oder?«
»Ja.« Sie tätschelte mein Knie. »Ich mag es, wenn du mich bemutterst. Und du bist eine gute Mutter, Karin.« Sie reckte den Kopf und musterte mich ganz genau. »Hast du geweint?«
»Nur kurz. Es war ein verrückter Tag.«
»Deshalb kann ich Feiertage nicht ausstehen ... da empfindet man viel intensiver.«
Damit spielte sie auf meine Fehlgeburt an. Aus den vielen Gesprächen, die wir darüber geführt hatten, wusste sie natürlich, wie sehr dieser Verlust an mir nagte.
»Nein, Mom, daran liegt es nicht. Ich habe in den letzten vierundzwanzig Stunden viel Zeit mit Billy verbracht ... an zwei unterschiedlichen Tatorten.«
»Warum das?«, wollte sie wissen.
Ich erklärte ihr, was geschehen war, und erzählte von Billys PTBS, aber was die Einzelheiten zu den Morden anbelangte, hielt ich mich ziemlich bedeckt. Wie sich jedoch herausstellte, war sie eh schon auf dem Laufenden.
»Essie hat mich heute Morgen angemailt, gleich nachdem sie davon erfahren hatte.« Mit Essie hatte Mutter sich letztes Jahr während eines Kunstgeschichtskurses an der New School in Manhattan angefreundet. »Sie hat mir einen Link geschickt, und ich habe online ein paar Artikel gelesen. Karin, warst du tatsächlich dort?«
»Ja.«
Sie starrte mich einen Augenblick lang nur an. Ich wusste, wie sehr sie sich wünschte, dass ich überhaupt nicht mehr ermittelte. Nach all dem, was ich hinter mir hatte, konnte sie einfach nicht begreifen, weshalb ich mit Mac zusammenarbeitete und forensische Psychologie studierte. Meine Einwände – das ist nun mal mein Beruf, in diesem Metier kenne ich mich aus und verfüge über eine große Kompetenz – fielen bei ihr nicht auf fruchtbaren Boden.
»Du bist wie eine Motte, die ums Licht schwirrt und irgendwann verbrennt, Karin«, meinte sie verstimmt, ließ dann jedoch das Thema fallen. Wir hatten in der Vergangenheit zur Genüge darüber gesprochen, und meine Mutter, die alles andere als ein weiblicher Don Quijote war, versuchte nicht mehr, mich von etwas abzubringen, wofür ich mich längst entschieden hatte.
Wir plauderten eine Stunde lang, bis mich die Erschöpfung übermannte. Obschon es erst kurz nach neun war, hatte ich das Gefühl, es wäre bereits Mitternacht. Also machte ich mich auf den Heimweg, und allein die Aussicht, mich gleich aufs Ohr legen zu können, ließ mich einen Fuß vor den anderen setzen.
Ich betrat das stille Haus und fand Chali in der Küche, wo sie eine Zeitschrift las.
»Schlafen die beiden?«, fragte ich sie.
Sie schlug die Illustrierte zu und drehte sich auf dem Stuhl zu mir um. Ihr müder Blick erinnerte mich daran, dass auch sie einen langen Tag hinter sich hatte. »Mac hat immer noch hohes
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