Karl der Dicke beißt sich durch
Überall waren die Fenster geöffnet. Die Leute saßen in den Gärten, tranken Kaffee und hörten Musik. Einige spielten Federball auf der Straße. Karl rutschte auf dem Sattel hin und her und ärgerte sich über die neue Hose, die ihm viel zu eng war. Er trat mit dem Fuß gegen den Kettenkasten, um das Klappern abzustellen, und spuckte schwungvoll über den Lenker.
Ohne Freunde sein ist so ziemlich das Schlimmste auf der Welt, dachte er. Er würde lieber einen Tag auf Essen und Trinken verzichten, was ein unerhörtes Opfer wäre, als noch länger allein zu sein.
Plötzlich wurde er aus seinen trüben Gedanken geschreckt.
Er hörte lautes Schimpfen aus dem Vorgarten eines etwas zurückliegenden Hauses. Dankbar für die Abwechslung, die sich ihm so unversehens bot, fuhr er an die Hecke heran und blickte hinüber. Er sah einen großen, sehr dünnen Mann mit einem bunten Ball in der Hand und ein schwarzhaariges Mädchen, das ungefähr in seinem Alter sein mochte, neben einem kreisrunden Rosenbeet stehen. Der Mann war es, der so laut und grob schimpfte. Das Mädchen stand nur da, ohne etwas zu sagen. Es setzte zwar mehrmals zum Sprechen an, konnte das Geschrei des Mannes jedoch nicht unterbrechen.
Karl durchschaute sekundenschnell, was geschehen war, und ergriff sofort Partei für das Mädchen.
„Die langen Dünnen sind das Unglück dieser Welt!“ murmelte er. „Wenn es nur Dicke gäbe, hätten wir das Paradies auf Erden.“
„Hallo!“ rief er über die Hecke. „Das ist ja ruhestörender Lärm, was Sie da veranstalten! Schreien Sie doch nicht so! Mir flutscht schon die ganze Luft aus den Reifen!“
Der zornige Mann wandte ruckartig den Kopf, um zu sehen, wer es wagte, seine Kanonade zu unterbrechen. Als er begriff, daß es nur ein Junge war, drohte er mit der Faust, schimpfte aber pausenlos weiter. Er wollte den Ball nicht herausgeben, der dem Mädchen im Spiel über die Hecke und in die Rosen gesprungen war.
Mensch, dachte Karl, der macht ein Theater.
„Hören Sie“, rief er, „rücken Sie schon den dämlichen Ball raus, und lassen Sie das Mädchen laufen! Sie hat es bestimmt nicht mit Absicht getan.“
Diese Worte machten den Mann noch wütender. Er fuhr herum und schüttelte die Faust gegen Karl.
„Mach, daß du verschwindest!“ rief er. „Du willst wohl ein paar Ohrfeigen haben, was?“
„Nee, die können Sie behalten!“ antwortete Karl ebenso laut. „Ich will nur, daß Sie dem Mädchen den Ball zurückgeben!“
„Den kriegt sie aber nicht!“ schrie der Wüterich. „Jeden Ball, der in meine Rosen fällt, behalte ich. Und nun verschwinde, und misch dich nicht in meine Angelegenheiten! Ich weiß schon, was ich tue!“
Nach diesen Worten stieß er das Mädchen vor sich her auf die Pforte zu.
Da fühlte Karl sich zum Einschreiten herausgefordert. Er setzte sich auf seinem Fahrrad so zurecht, daß er in Sekundenschnelle losbrausen konnte, spuckte über die Hecke und rief: „Pfui, Kuckuck! Vor Ihnen muß man ja ausspucken, Sie Unmensch! Wegen Ihrer dusseligen Rosen mißhandeln Sie ein hilfloses Kind! Ich sollte den Kinderschutzbund auf Sie hetzen! Schämen Sie sich!“
Das war dem Mann zuviel.
Er vergaß Ball und Mädchen und rannte durch die Pforte auf Karl zu. Aber darauf war der vorbereitet. Wie von einem Flitzebogen abgeschossen, flog er davon. Zehn, zwölf Schritte lief der Mann mit, dann merkte er, daß er den frechen Burschen nicht einholen konnte, und ließ von ihm ab. Das Mädchen nahm geistesgegenwärtig den Ball auf, der dem Mann aus der Hand gefallen war, und rannte in die entgegengesetzte Richtung davon.
„Wenn das keine gute Tat war“, murmelte Karl grinsend, „will ich Hieronymus heißen! Die bringen wir auf der Titelseite, da haut sie den stärksten Neger vom Tablett.“ Er wartete, bis der Mann in seinem Haus verschwunden war, und fuhr dann dem Mädchen nach.
„Hallo“, rief er, noch bevor er es eingeholt hatte, „nicht so eilig! Der Schreihals ist abgehauen, hier kommt dein Retter!“
Da blieb das Mädchen stehen und wandte sich um. Karl sah, daß es große dunkle Augen und pechschwarzes Haar hatte und sehr hübsch war. Und das machte ihn verlegen. Mädchen, die so gut aussahen, warteten nur selten auf ihn, man konnte schon fast sagen, nie. Er wurde rot vom Hals bis zu den Haaren, stieg, um es zu verbergen, hastig von seinem Rad und beugte sich tief über die Rückleuchte, als müsse er jetzt am hellichten Tag dringend nachprüfen, ob die Birne auch fest und
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