Karl der Große: Gewalt und Glaube (German Edition)
Gebet
arls
Templum
war steinernes Zeichen seines Glaubens und tatsächlich mehr als nur ein repräsentativer Prachtbau. Oktogon und Sechzehneck unterlagen einer vorgegebenen Zahlensymbolik[ 122 ]. Beider Proportionen wurden durch die vollkommene Zahl sechs und die Acht, dem Zahlzeichen der Auferstehung Christi und der Auferstehung der Toten, bestimmt[ 123 ]. Solche Symbolik war in ihrer Bedeutung Karl bestens vertraut, wie durch einen Brief Alkuins bezeugt wird[ 124 ]. Der Kreisdurchmesser des Oktogons betrug 6 mal acht: 48 Fuß (zu 32,24 cm Länge), der des Sechzehnecks das Doppelte, die Gesamtlänge das Dreifache, mithin 144 Fuß, das Maß des himmlischen Jerusalem nach der Apokalypse des Johannes. Auch der Umfang des Oktogons, gemessen von innerer Ecke zu innerer Ecke, betrug 144 Fuß – erneut das Maß des himmlischen Jerusalem (Apc 21,17).
Drei Bogenreihen zogen die Blicke etwa 31 m, wiederum 48 Fuß, nach oben. Dort, in der Höhe der Kuppel, thronte der apokalyptische Weltenrichter (Apc 4,2–4) inmitten von 144 Sternen, wohl ein Symbol für die 144.000 Geretteten der Apokalypse (Apc 7,4–8 und 14,1), die nach Auffassung der Zeitgenossen gleichbedeutend war mit den Geretteten überhaupt[ 125 ]. Zu der vollkommenen Zahl sechs trat mit den acht Pfeilern des Oktogons und den zweimal 16 Säulen die Zahl acht, dazu mit den drei Bogenfeldern, die den Blick zum Weltenrichter emporzogen, die trinitarische und heilsgeschichtlich bedeutsame Drei. Auch in diesen Zahlen verbirgt sich das apokalyptische Maß: 6 × 8 × 3 = 144. Der gesamte Bau war endzeitlich durchkomponiert, von unten bis oben, in höchstem Sinne vollendet. Karl war sich dessen ohne Zweifel bewußt[ 126 ].
Die Widmungsinschrift bestätigt die Deutung. Sie lief mit vier elegischen Distichen, mithin in acht Versen, «am Rand des Gesimses zwischen den oberen und unteren Bögen» um das Oktogon; von Maria fehlt hier jede Spur. In ihrer vorliegenden Form dürftendie Verse von Alkuin stammen, entlehnten aber die ersten drei Distichen Prosper von Aquitanien, der seinerseits Gedanken Augustins zumal aus dessen Johannes-Kommentar übernahm:
40 Grundriß der karolingischen Marienkirche: Der innere Kreis besitzt einen Durchmesser von 48 karolingischen Fuß, der mittlere von 96, der äußere von 144 Fuß (nach Ulrike Heckner).
Cum lapides vivi pacis conpage ligantur
,
Inque pares numeros omnia conveniunt
,
Claret opus domini, totam qui construit aulam
,
Effectusque piis dat studiis hominum
,
Quorum perpetui decoris structura manebit
,
Si perfecta auctor protegat atque regat:
Sic Deus hoc tutum stabili fundamine templum
,
Quod Karolus princeps condidit, esse velit
.
(«Wenn lebendige Steine durch das Gefüge des Friedens verbunden sind und alles in geraden Zahlen zusammentrifft, dann leuchtet das Werk des Herrn, der den ganzen Kirchenbau fügt und den frommen Mühen der Menschen Wirkung verleiht, deren Werk ewiger Zier erhalten bleibt,wenn sein Urheber das Vollendete schützt und lenkt. So will Gott, daß dieser Tempel, den der
Princeps
Karl gründete, auf festem Fundament sicher ruhe»)[ 127 ].
Diese gewaltige
Aula
, wie die Kirche genannt werden konnte, verkündete mit Baumaßen und Inschrift eine theologische Botschaft. Hatte Alkuin sie entworfen oder der ‹Hofbischof› und Komputist Hildebald? Als «lebendige Steine» galten – nach neutestamentlichem (1Petr 2,4–5) und patristischem Muster – die Gläubigen, in ihrem Friedensverbund die gesamte Kirche, das Himmlische Jerusalem, ja Christus selbst. Der «Herr» und «Urheber», den die Inschrift pries, konnte sowohl Gott als auch den Stifter, eben den König oder Kaiser meinen. Als glatte Zahlen – die acht und sechzehn Ecken, die zweimal acht Säulenpaare, die das Oktogon in seinen oberen Teilen schmücken – galten nur solche, die immer wieder in zwei gleiche Teile geteilt werden können; allein die eins bezeichnete die unteilbare Einheit, war somit die in den Zahlen verborgene Gegenwart des Weltschöpfers.
Der Kirchenbau erweist sich als ein komplexes Zeichen. Acht Verse lobten den Herrn, der die Kirche errichtet hatte, acht Gnaden Gottes hatte Karl empfangen, indem er zum Königtum aufgestiegen, acht «Säulen» auch, acht Königstugenden nämlich, trugen die «Burg Gottes», wie Cathuulf den König gemahnte[ 128 ], acht Säulen trugen das Dach des Lebensbrunnens, von dem Christus den Seligen der Endzeit zu trinken geben wird (Apc 21,6). Ihn illuminierte das
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