Karl der Große: Gewalt und Glaube (German Edition)
Programm. Hatte er dieses letzte nicht entworfen? Karl aber kannte, von Alkuin instruiert, die religiöse ‹Zahlentheorie› und die Botschaften der Apokalypse und hörte sich immer wieder an das Ende der Zeiten gemahnt. Gerade auch das erste große Reformprogramm, das in Aachen beschlossen worden war, die «Admonitio generalis», hatte diese Mahnung Klerus und Volk mit auf den Weg gegeben[ 136 ].
42 Aachen Marienkirche, Nikasius-Altar und die Rücklehne des Throns
Der römischen Salvatorkirche in Sichtweite benachbart lag zudem die Kirche, die damals gewöhnlich
Hierusalem
hieß; sie war dem Heiligen Kreuz geweiht. Auch ihr Patrozinium nahm Karl in seine Pfalzanlage auf und vereinte damit, was in Rom räumlich getrennt lag. Denn es war der obere Umgang der zweigeschossigen Pfalzkirche, der dem Salvator und dem Hl. Kreuz geweiht wurde. Hier, inmitten der Pfalz des Königs oder Kaisers, versammelte sich das Volk zum Gottesdienst. Dorthin stieg es – wie in Rom auf den Hügel – so in Aachen über zwei Wendeltreppen hinauf.
Wahrscheinlich besaß Karl – wie sein Quasi-Schwiegersohn Angilbert – einen Splitter vom Heiligen Kreuz. Doch die Analogie ging vermutlich noch weiter. Alkuin etwa nannte einmal Aachen als Karls
Jerusalem optatae patriae
, als das Jerusalem seiner ersehnten Heimat, in dem der Tempel Salomos, mithin die Pfalzkirche errichtet würde. War das nur eine dem König schmeichelnde Metapher? Doch besaß auch das Lateranbaptisterium eine schon unter Honorius I. errichtete Heiligkreuzkapelle und die Laterankirche eine von Sergius I. gestiftete Kreuzreliquie, die an Karfreitag in der Prozession zur Stationskirche Santa Croce mitgeführt wurde[ 137 ]. Die kultische Verbindung von Erlöser und Kreuz hatte somit auch im Lateranareal ihr Vorbild. Karl dürfte es bedacht haben.
Er verlangte in der Tat nach sinnlichem Zeugnis des verheißenen «Vaterlandes» und begnügte sich nicht mit dem Kreuzessplitter. Er hatte vielmehr – wohl bald nach der Kaiserkrönung – im oberen Geschoß der Kirche, dem Hochmünster, einen Thron aus antiken Marmorplatten errichten lassen, die aller Wahrscheinlichkeit nach aus Jerusalem, vermutlich aus der Grabes- und der Golgathakirche herbeigeschafft worden waren. Sie durften alsReliquien gelten. Hatte doch auch Angilbert durch seines Herrn Vermittlung kostbarste Reliquien aus dem Umfeld des Heiligen Grabes erhalten[ 138 ]. Der König und Kaiser aber hatte zweifellos noch Wertvolleres empfangen. Einhard freilich, der den Schmuck der Kirche relativ ausführlich beschrieb (c. 26) und nur pauschaldie Reliquiengaben aus dem Heiligen Land erwähnte, schwieg sich über den Thron ebenso aus wie über den Bildschmuck der Kirche, obgleich derselbe zur ursprünglichen Ausstattung der Marienkirche gehörte[ 139 ].
43–44 Stephansburse, Wien, Weltliche Schatzkammer
Die rechte Wange des Throns, seine der Sonne zugewandte Schauseite, und seine Rückenstütze zeigen noch immer antike, höchst profane, aber auch fromme Einritzungen, darunter ein Mühlespiel, auch eine flüchtige Kreuzigungsdarstellung. Die Ritzungen hätten leicht weggeschliffen oder im Throninnern verborgen werden können. Doch sollten sie offenbar gesehen werden und für Karls Zeitgenossen die Authentizität ihrer Herkunft bekunden – ihrer Herkunft eben vom Kalvarienberg (wo sich einst die römischen Soldaten unter dem Kreuz mit Würfelspiel die Zeit vertrieben hatten) und aus der Grabeskirche. Den Boden, auf dem der Thron zu stehen kam, bedeckten der Kostbarkeit der Reliquie entsprechende antike Stücke, darunter roter und grüner Porphyr, ohne Zweifel Importe aus Ravenna oder Rom[ 140 ].
Die Form dieses Thrones dürfte sich ursprünglich schlicht ausgenommen haben, mit einer trapezförmigen Rücklehne, geringer erhöht als heute und nahe am Rand des Oberstocks «zwischen zwei marmorne Säulen» postiert, die dort stehen[ 141 ]. Heute findet sich der Thron in die Mitte des Umgangs zurückversetzt und gleich Salomons Thron (1Kg 10,18–20) über sechs Stufen zu besteigen. An seine Rückwand angelehnt findet sich seit 1305 der Nicasius-Altar. Er dürfte einen karolingischen Vorgänger besessen haben. Unter dem Sitz befindet sich ein Hohlraum, der zumindest zeitweise eine weitere kostbare Reliquie aufgenommen zu haben scheint, die goldene Burse nämlich mit der vom Blut des Protomärtyrers Stephan getränkten Erde, die dann zu den Reichskleinodien gehören sollte[ 142 ].
Dieses Heiltum könnte durch den am
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