Karl der Große: Gewalt und Glaube (German Edition)
entsprechend hatte Paulus Diaconus seiner Herrin, der Königstochter Adelperga, im Jahr 763 die Zeiten vorgerechnet. Bis zur Vollendung des sechsten Jahrtausends fehlten auch für ihn nur noch 38 Jahre. Noch lägen Königreich und beneventanisches Fürstentum in tiefstem Frieden. Die Mahnung aber endete: «Der himmlische Richter kommt wie ein Blitz vom Himmel. Tag und Stunde sind den Sterblichen verborgen. Glücklich wird sein, den der Herr bereitet findet. Wenn Arechis, der gnädige Fürst mit seiner erlauchten Gattin, vor Deinem Thron, Du gerechter Richter, steht, gib ihnen mit den Erwählten ewige Freude»[ 5 ]. Man durchlebte brandgefährliche Zeiten. Der Weihnachtstag des Jahres 800, der erste Tag des Jahres 801 nach karolingischer Zählung,brächte, wenn die Rechnung der Heiligen stimmte, die Vollendung der Weltalter. Denn 6000 Jahre sollte die Welt nach den Überzeugungen der Rabbinen und nach dem Glauben der Kirchenväter überdauern[ 6 ].
Auch andernorts, etwa im nordspanischen Kloster Liébana, rechnete man in analoger Weise. Der Abt Beatus zählte in seinem Apokalypse-Kommentar besonders genau[ 7 ]. Er hatte ihn um das Jahr 786 (nach anderer Handschrift 776) in heller Sorge vor den Muslimen und in Erwartung des baldigen Tags der Auferstehung der Toten zum Gericht verfaßt. Nur noch 14 (24) Jahre fehlten bis zur Vollendung des letzten Jahrtausends und dem Kommen des Weltenrichters; nicht das Jahr, allein Tag und Stunde zu wissen hatte Gott sich vorbehalten[ 8 ]. In gleicher Weise kalkulierte die mozarabische Chronik von 754[ 9 ]. Nur der griechische Osten, Byzanz und die orthodoxe Kirche, folgten einer anderen Zählung, die sich an der Septuaginta, nicht an der Vulgata orientierte.
Endzeitwissen aber galt der universalen Kirche. Karl hatte bislang Kriege an den Grenzen seiner Königsherrschaft geführt, dieselben auch vorgeschoben, er hatte seine Herrschaft im Innern gefestigt wie keiner seiner Vorfahren und Vorgänger, hatte sie mit den Zielen der Kirche vereint, die Christenheit nach dem Osten ausgeweitet, Frieden und Gerechtigkeit geboten, hatte die Kirchen unter seiner Gewalt geordnet und gestärkt, sein Haupt in Demut vor dem Nachfolger des Apostelfürsten gebeugt. Jetzt galt es, die universale Kirche weltweit, die Christenheit insgesamt zu schützen. Jetzt trat Karl vor universale Aufgaben, die weit über die engen Horizonte eines Frankenkönigs hinauswiesen.
7
Die Krönung – angeblich abgelehnt
s war Weihnachten, der 25. Dezember des Jahres 801 nach zeitgenössischer Zählung, der eschatologisch bedeutsame erste Tag des siebten Jahrtausends seit Erschaffung der Welt nach der Rechnung des hl. Hieronymus. Karl ging zur Messe in die seiner Pfalz benachbarte Peterskirche, und als er sich vom Gebet vor der
Confessio
erhob, setzte ihm der Papst eine Krone aufs Haupt und von allen anwesenden Römern wurde er akklamiert: «Karl, dem Augustus, dem von Gott gekrönten großen und friedebringenden Imperator der Römer, Leben und Sieg!»
Vita et victoria
. Dannwurden die
Laudes
gesungen[ 163 ]. Danach «adorierte ihn der Papst nach der Weise der alten Kaiser (begrüßte ihn also mit Proskynese), und nannte ihn, da der Name
Patricius
abgelegt war,
Imperator
und
Augustus
».
50 Rekonstruktion (17. Jahrhundert) der abgerissenen und durch den heutigen Neubau ersetzten konstantinischen Basilika von Alt Sankt Peter, Fresko in SS. Silvestro e Martino ai Monti
So lautete die Darstellung der «Reichsannalen». Sie folgte der Sicht des karolingischen Kaiserhofes in den Jahren bald nach dem einzigartigen Ereignis. Die «Metzer Annalen» wiederholten kurz darauf den Wortlaut der «Reichsannalen», änderten also nichts[ 164 ]. Die konstitutiven Akte – die Krönung durch den Papst und den Kaiserruf – vollzogen demnach Römer. Doch war die Darstellung vollständig? Krönung und Akklamation wurden deutlich knapper behandelt als der anschließende Gerichtstag gegen die Aufrührer und die weiterenHerrscherakte des neuen Kaisers in der Stadt der Apostelfürsten. Zweifel an der Akzeptanz dieser Krönung spiegelte das herrschernahe Annalenwerk dennoch in keiner Weise.
Warum hätten solche auch festgehalten werden sollen? Karl war Herr in und über Rom, wie die Proskynese des Papstes deutlich bekundete. Freilich war bei keiner früheren römischen oder byzantinischen Kaisererhebung jemals ein Papst oder ein Patriarch in so herausragender Weise hervorgetreten wie jetzt der so heftig umstrittene Leo. Der Liturg
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